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Kultur: "Die Brautleute": Kennst du das Land, wo das Chaos blüht - Alessandro Manzoni führt ins Mailand des 17. Jahrhunderts

Ob Gelehrte, Dandys oder Fürstinnen: Anfang des 19. Jahrhunderts treibt es jeden, der auf sich hält, nach Italien.

Ob Gelehrte, Dandys oder Fürstinnen: Anfang des 19. Jahrhunderts treibt es jeden, der auf sich hält, nach Italien. In der Nachfolge Goethes und Humboldts tritt man die Reise gen Süden an. Italien ist zur Projektionsfläche nordeuropäischer Sehnsüchte verkommen. Die soziale Realität in dem zersplitterten Land fällt den Besuchern nicht ins Auge. Höchste Zeit, dass sich jemand literarisch der Sache annimmt. Das tut 1821 der Mailänder Schriftsteller Alessandro Manzoni.

Die Unabhängigkeitsbestrebungen der Lombardei waren gerade im Keim erstickt, als sich der patriotisch gesonnene Manzoni auf sein Landgut nach Brusuglio zurückzieht und mit der Lektüre zweier Schriften aus dem 17. Jahrhundert beginnt. Einen Roman will er schreiben, angesiedelt zwischen 1628 und 1631, einer politisch ähnlich demütigenden Zeit wie der Gegenwart. Es soll um Rebellion, feudale Machthaber, Misswirtschaft, Korruption, die Pest und das Schicksal ganz gewöhnlicher Menschen gehen. Überzeugt von den erzieherischen Aufgaben der Literatur, richtet sich Manzoni an das gesamte Volk, und weil er den nationalen Gedanken befördern will, bemüht er sich um eine Sprache, die es zu einer großen Verbreitung bringen könnte. "I promessi sposi" (Die Brautleute) nennt der Schriftsteller sein Werk, das 1827 in Mailand erscheint, bereits im ersten Jahr 40 Auflagen erlebt und zum Kultbuch des neuen Bürgertums wird.

Gleich zu Beginn führt Manzoni einen erfundenen Anonymus aus der Barockzeit ein, der seine Überlegungen zur Historie im allgemeinen darlegt und sich in umständlichen Illustrationen seines Unterfangens verheddert. Nach knapp zwei Seiten gibt Manzoni einem gleichfalls erfundenen Herausgeber das Wort: Ihm läge eine Handschrift voller stilistischer Entgleisungen, aber von interessantem Inhalt vor. Statt sie nur zu kopieren, wolle er die Fakten lieber neu ordnen, historische Quellen konsultieren und selbst in den Rock des Erzählers schlüpfen. Endlich fängt die Geschichte von den Brautleuten an. Sie führt in ein kleines Dorf am Comer See, wo zwei Söldner dem Pfarrer Don Abbondio auflauern. Aus der Trauung von Renzo und Lucia könne nichts werden, erklären sie ihm. Die beiden stehen im Dienst des mächtigen Don Rodrigo. Der Lehnsherr hat selbst ein Auge auf Lucia geworfen. Renzo durchschaut die Entschuldigungen des feigen Pfarrers und ersinnt mit seiner Schwiegermutter in spe eine List. Man solle Don Abbondio im Beisein zweier Zeugen überraschen, die Trauungsformel aussprechen und damit eine Eheschließung erzwingen. Die verzagten Verlobten bitten außerdem den Kapuzinermönch Pater Cristoforo um Hilfe, der bei Don Rodrigo vorspricht, ohne etwas auszurichten.

Die Ereignisse überstürzen sich: Aus Wut über den anmassenden Pater Cristoforo beschließt Don Rodrigo, Lucia zu entführen. Seine Söldner schreiten just an dem Abend zur Tat, als Renzo und Lucia den Pfarrer überrumpeln und nicht zu Hause sind. Don Abbondio schlägt Alarm und läutet die Kirchenglocken, die Söldner fühlen sich ertappt und kehren unverrichteter Dinge auf Don Rodrigos Schloß zurück. Für Renzo, Lucia und Agnese ist ihr Dorf dennoch zu gefährlich geworden, sie müssen fliehen und suchen im Ausland Asyl. Lucia wird in die Obhut eines Klosters nach Monza gebracht, Renzo geht nach Mailand.

Zwei Jahre und rund 800 Romanseiten wird es dauern, bis sich die Verlobten wieder in die Arme schließen und endlich heiraten können. Manzoni verknüpft das bewährte Handlungsmuster mit avanciertester Geschichtstheorie, aufklärerischen Ideen und dem Gedankengut der Romantik und bewirkt eine Erneuerung der italienischen Literatur. 1785 in Mailand geboren, hatte er nach einer strengen Klostererziehung eine Weile bei seiner Mutter in Paris gelebt, Salons frequentiert, seiner Spielleidenschaft gefrönt und eifrig debattiert. Der kritische Geist der französischen Philosophie, die historiografischen Studien von Augustin Thierry und seine Freundschaft mit dem Historiker Claude Fauriel prägten Manzonis Verständnis von Literatur, woran auch eine große Lebenskrise und die Rückbesinnung auf den katholischen Glauben nichts änderten. Mit den "Brautleuten" will er die eigene Resignation angesichts der politischen Lage überwinden und die christliche Botschaft mit einer geschichtlichen Aufwärtsbewegung verknüpfen. Um die Ehe und die Gefühlswelt der Liebenden geht es eigentlich nur am Rande. Manzonis Figuren werden zu Spielbällen der Zeitläufte.

Das Einfache ist modern

Historische Umwälzungen mit individuellen Schicksalen zu verbinden, ist damals eine neuartige literarische Praxis, die das Publikum begeistert. Gemeinsam mit dem gutmütigen Dörfler kann der Leser die Folgen des Dreißigjährigen Krieges besichtigen, wird in die Mailänder Brotrevolte hineingezogen, erleidet die Maßnahmen einer korrupte Regierung und erlebt die Ausbreitung der Pest. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen allerdings die einfachen Leute. Auch das ist damals ultramodern.

Wer den Roman heute zur Hand nimmt, wird sich nicht nur für den sympathisch-tölpelhaften Renzo begeistern, der nach Bildungsroman-Manier zu einem sittlich gefestigten Bürger heranreift. Faszinierend ist vor allem die erzählerische Gestaltung des Stoffes. Den rebellierenden Mailändern, dem verarmten Volk oder den dahin siechenden Pestkranken sind großflächige Tableaus gewidmet: Das Auge des Erzählers gleitet von der Straßenzeile auf ihre Bewohner, beschreibt Berufsstand, Kleidung, Alter, Körperhaltung, Gesichtszüge, und nimmt Menschenmengen und Individuelles gleichermaßen in den Blick. Immer wieder taucht der Erzähler in das Innenleben seiner Helden ein, inszeniert abrupte Perspektivwechsel und lässt seine Figuren schwatzen, schimpfen und palavern. Ob Gastwirt, Kardinal oder Raubritter, Manzoni verwendet unzählige Stilebenen und Redeformen, die bis zu dem angeblich erst viel später erfundenen inneren Monolog reichen.

Kaum liegt der Roman 1827 in den Mailänder Buchhandlungen, macht sich Manzoni an die sprachliche Überarbeitung der ersten Fassung. Er wälzt toskanische Wörterbücher, tilgt sämtliche dialektalen Redeweisen und reist mit seiner Familie nach Florenz, um an Ort und Stelle das gesprochene Florentinisch zu erforschen. Denn mit dem verstaubten literarischen Toskanisch im Stile Petrarcas kann er seinen im Alltag Dialekt sprechenden Lesern nicht kommen - ihm schwebt eine lebendige Sprache vor, wie er sie in der Ausgabe von 1840 verwirklicht.

Seitdem Goethe die Fassung von 1827 mit Begeisterung verschlang, sind zahlreiche Übersetzungen ins Deutsche erschienen. Wirklich bekannt wurde Manzoni nördlich der Alpen trotzdem nicht - allein aus diesem Grund ist eine neue Übertragung begrüßenswert, zumal wenn sie von einem herausragenden Vertreter seiner Zunft wie Burkhart Kroeber stammt und durch informative Anmerkungen sowie Nachwort ergänzt wird. Obwohl Manzonis Roman bei uns unter dem Titel "Die Verlobten" eingeführt ist, wählt Kroeber einen neuen Titel, der näher am Original liegt und in der Tat viel besser paßt: "Die Brautleute". Für den deutschen Leser ist Kroebers Übersetzung ein Glücksfall. Kroeber findet ein Äquivalent zu Manzonis bedächtig dahin fließendem Erzählstil, seine Sprache ist geschmeidig, und er sieht von der kompletten syntaktischen Umformung ab. Da gerade die langen, verschachtelten Perioden den Zauber der Prosa Manzonis ausmachen, ist dies ein großes Verdienst. Die vielen verschiedenen Stillagen bleiben erhalten, auch der subtil ironische Plauderton. Als "Epopöe des dritten Standes" gelten die "Brautleute" in Manzonis Heimat - aber sie sind viel mehr: ein großartiger Roman über Italien, die italienische Geschichte und die Unwägbarkeiten des Lebens.

Maike Albath

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