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Kultur: Die Brise der Krise

Aufbrüche, Untergänge: Wie die Wiener Festwochen auf Zeitströmungen zu reagieren suchten.

Angesichts globaler Spannungen wird das Theater immer mehr zum Ort soziopolitischer Untersuchungen der Wirklichkeit. In Zeiten medialer Verblendung ist ihr aber mit den traditionellen illusionistischen Theatermitteln kaum mehr beizukommen. Und so erobert die Realität einfach selber die Bühne. Oder was Theaterleute dafür halten.

„Anatomie der Krise“ nannte Schauspieldirektorin Stefanie Carp ihr Wiener Festwochenprogramm, das mit einer klugen Auswahl die sozialpolitischen Umwälzungen des 20. und 21. Jahrhunderts zum Thema macht. Das Ergebnis ist eine mannigfaltige theatrale Recherche in 39 Produktionen – laut Carp beseelt von der Hoffnung nach mehr Gerechtigkeit.

Gerade jene Projekte, die marktschreierisch angepriesen wurden, enttäuschten am meisten. Christoph Marthalers Inszenierung von Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ etwa verfehlte die gesellschaftskritische Sprengkraft des Textes von 1932. Wie immer zwar inspirierend Anna Viebrocks Bühne: Die kalte Fassade und die muffeligen Holztäfelungen des Anatomischen Instituts stehen beklemmend für eine tödlich verwaltete Welt. Doch bleibt es bei einer langatmigen Horváth-Andacht: Marthalers hochkarätiger Gesangsverein mit Olivia Grigolli, Sasha Rau, Ueli Jäggi, Josef Ostendorf und Bettina Stucky wechselt zwischen abstrahierender Gestik und naturalistischer Einfühlung, zwischen Bach-Chorälen, Léhar-Operette und alten Volksliedern – und bleibt doch an der bloßen Oberfläche von Horváths „kleinem Totentanz“.

Immer heftigere Kriegsvisionen prägen Peter Handkes „Die schönen Tage von Aranjuez“, worin der Dichter die zivilisatorische Krise im Kampf der Geschlechter ansiedelt. Mit dem verstörenden Realitätsgehalt in diesem „Sommerdialog“ wusste Festwochen-Intendant Luc Bondy bei seiner ersten Handke-Uraufführung nur wenig anzufangen: Setzt Handke alles auf Imagination durch Sprache, so versetzt Bondy das traumwandlerische Sprechstück über die Liebe in die Situation nach einer Theateraufführung. Dörte Lyssewski und Jens Harzer geben ein Schauspielerpaar, das mit grellem Klamauk Handkes bedrohliches Szenario in kulinarischem Kitsch erstickt.

Dreht sich bei Ariane Mnouchkine und ihrem Théâtre du Soleil mit dem Stummfilmstück „Les Naufragés du Fol Espoir“ alles um die Aufbruchstimmung der Sozialisten am Vorabend des Ersten Weltkriegs, so blickt Michail Bulgakow mit „Der Meister und Margarita“ auf den menschenvernichtenden Stalinismus. Simon McBurney und seiner britischen Truppe des Theatre de Complicite gelang mit feinen Projektionstechniken ein perfekter Theaterzauber für die rasenden Zeit- und Ortssprünge in Bulgakows fantastischem Großstadtroman. Ebenso bestach Mnouchkine mit naiv-anrührendem und zugleich handwerklich brillantem Bildertheater, wobei beide jedoch weit hinter den Möglichkeiten zur Erhellung der historischen Perspektive des Sozialismus zurückblieben.

Auch Ulrich Seidls formal unscharfe Uraufführung „Böse Buben/Fiese Männer“ nach David Foster Wallace’ „Kurzen Interviews mit fiesen Männern“ überzeugte ebenso wenig wie Rimini Protokolls „Prometheus in Athen“, womit die Dokumentartheaterspezialisten nur ihr gleichnamiges Projekt von 2010 recycelten. Zum nachgerade empörenden Ereignis geriet die Uraufführung von J. M. Coetzees Roman „Schande“. Denn die effektheischerische Hardcore-Trash-Inszenierung des Ungarn Kornél Mundruczó über die Folgen der Apartheid in Südafrika begann mit der detailliert-naturalistischen Vergewaltigung der Protagonistin durch vier Männer mit Afro-Perücken: in ihrer ästhetisch-naiven Ungebrochenheit war sie nur als erschreckende Affirmation von Gewalt an Frauen zu verstehen.

Weit stärker beeindruckten die selbstreflexiv eingesetzten Mittel eines armen Theaters, das ästhetisch produktiver die gegenwärtige Krise in den Blick nahm und damit für die stillen Höhepunkte bei den diesjährigen Wiener Festwochen sorgte: Das australische Back to Back Theatre, bestehend aus Schauspielprofis und Laien mit geistiger Behinderung, präsentierte in der Regie von Bruce Gladwin „Ganesh Versus the Third Reich“. In einem doppelbödigen Spiel im Spiel zeigte es die Theaterprobe zu einem Stück über den elefantenköpfigen Hindu-Gott Ganesha, der von Hitler das aus dem indischen Mythos gestohlene Swastika-Symbol (Hakenkreuz) zurückholt. Im empathielosen Gehabe eines Regisseurs, der den behinderten Darstellern mit zunehmender Gewalt begegnet, verweist Gladwin subtil auf autoritäre Strukturen in kleinsten Gemeinschaften, die sich unter den Nazis zur Vernichtungsmaschinerie ausweiteten.

Diesen sozialpädagogischen Ansatz teilt auch der ungarische Theatermacher Arpád Schilling, der mit seinen Community-Projekten konsequent den Schritt vom Theater in die Realität vollzieht. Mit „A papno“ (Die Priesterin) aus seiner „Krízis“-Trilogie für vier Schauspieler und vierzehn jugendliche Laiendarsteller aus Siebenbürgen zeigt Schilling einen öffentlichen Theaterworkshop, der sowohl in aller Schlichtheit die Genese des eigenen Projekts als auch die Geschichte einer jungen Schauspielerin entfaltet, die bei ihrer Arbeit mit Kindern in einem ärmlichen Dorf an den verkrusteten Sozialstrukturen scheitert. Theater als pädagogisches Instrument zur Selbstbestimmung durchbricht zwar die Autonomie der Kunstform, enthält aber im Kern den Glauben daran, dass Wirklichkeit sich verändern lässt. Eine Antwort auf reale Krisen, immerhin.

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