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Kampf mit dem Glauben. Alexander Scheer als Iwan Karamasow mit einer Reproduktion des „Toten Christus im Grabe“ (1522) von Hans Holbein.

© Thomas Aurin

"Die Brüder Karamasow" an der Volksbühne: Der Gott der Hysterie

Auf langer Abschiedstour, mit viel Gebrüll: Frank Castorfs Inszenierung der „Brüder Karamasow“ an der Volksbühne.

Als die napoleonische Armee auf Moskau vorrückte, griffen die Russen zur Taktik der verbrannten Erde. Das eigene Land wurde zerstört, um den Feind zu stoppen. So ähnlich macht es die Volksbühne, Schauplatz der heftigsten kulturpolitischen Verwerfung seit der Wende. Frank Castorf hört 2017 nach einem Vierteljahrhundert als Intendant auf – Chris Dercon ante portas! Bis dahin gibt es am Rosa-Luxemburg-Platz zwei letzte Spielzeiten des Abschieds, der Wut und der Trauer.

Der Zuschauerraum ist schwarz, der Boden von der Bühne bis ins Hochparkett mit schwarzer Teerfarbe gestrichen. An den Seiten schwarzer Flitter; halb Club, halb Mausoleum. Die Sitzreihen wurden herausgenommen, die Zuschauer finden auf schwarzen Sofasäcken Platz. Es sind nicht sehr viele, ein familiärer Kreis. Zusammenrücken in schwerer Zeit.

Die Platzausnutzung wird famos sein bei dieser Farewell-Frank-Tour. Das kostet eine Menge Geld, ein teurer Spleen, aber der Senat gleicht die finanzielle Lücke aus, die entsteht, weil sich ein großes Haus aus freien Stücken selbst verkleinert. Eine Art Abschiedsgeschenk an den Mann, der das Theater der vergangenen Jahrzehnte geprägt hat und nun aufhören muss, jedenfalls als Theaterleiter. Der Regisseur Castorf dürfte am Berliner Ensemble in der Zeit nach Claus Peymann beim Nachfolger Oliver Reese Arbeit finden.

„Die Brüder Karamasow“, Fjodor Dostojewskis Roman-Tsunami in der Adaption von Castorf, hatte im Mai bei den Wiener Festwochen Premiere. Die Berliner Premiere am Freitag war kein gewöhnlicher Abend. Noch einmal, nach „Dämonen“, „Erniedrigte und Beleidigte“, „Der Idiot“, nach „Schuld und Sühne“ und „Der Spieler“ wirft Castorf ein schweres Buch der Ideologien, des Verbrechens, der Seelenqual, der redewütigen Gottsucher auf die Bühne. „Die Brüder Karamasow“ (1880), Dostojewskis letztes großes Werk, erzählt und konstruiert Familiengeschichte als Gerichtsprotokoll, Ideengeschichte als Fortsetzungsroman. Die Schöpfer der großen amerikanischen Fernsehserien, von den „Sopranos“ zu „Breaking Bad“, sind bei Dostojewski in die Schule gegangen und haben ihn weitergedreht.

Man hockt da und schaut in den schwarzen Schlund

Castorf arbeitet wieder mit Live-Kamera, die meisten Spielszenen, die intensivsten, verfolgt man auf der großen Leinwand schräg über der Bühne. Dort steht das Karamasow-Haus, in dem sie chillen und killen. Im Zuschauerraum links die Sauna und andere Verschläge, und da geht es auch die Treppe hoch zu einem anderen Versteck, in dem die Schauspieler gefilmt werden, aus dem sie plötzlich herausgerannt kommen, um auch mal ins Publikum zu gehen, zu den Säcken, oder in einen anderen Teil des Karamasow-Komplexes zu wechseln. Im Vergleich zu älteren Produktionen läuft die Kameraarbeit ruhiger, es ist nicht mehr die fickrige Wackel-Ästhetik. Überhaupt bleiben diese sechseinhalb Stunden durchweg finster und schwer grundiert, keine Kalauer, kein Gruppenwitz, kein Slapstick. Und sehr viel Text – und schlecht zu verstehen.

Man hockt da und schaut in den schwarzen Schlund. Den Bühnenraum hat noch Bert Neumann entworfen, der im Sommer so plötzlich gestorbene Designer der Volksbühne. Das Schwarz bekommt eine zweite Bedeutung. Erst war es gemeint als Signal des widerständigen Abschieds der Castorf-Leute von der Volksbühne. Nun gilt es der Trauer um Bert Neumann.

Die Hauptfrage lautet: Wer versteht die Story halbwegs?

Sechseinhalb Stunden. Wie früher. Aber fast nichts ist mehr wie früher. Depression, gepaart mit Aggression. Sie sind laut, verdammt laut. Die Karamasows schreien sich die wunde Seele aus dem Leib in selbstquälerischen Monologen. Endlos der Karamasow-Rant, heiseres Bellen, die meiste Zeit in derselben Tonlage. Warum ist der Mensch nicht gut? Was ist mit Gott? Woher hat das Böse seine Kraft und Unwiderstehlichkeit?

Orthodoxie und Stalinismus, Glaube und Gehorsam, die fürchterlichen Verrenkungen des Atheismus in seiner Beweisnot, dass es Gott nicht geben kann – die Hauptfrage aber lautet: Wer versteht die Story halbwegs? Sie sind Amokläufer, ihre Religion heißt Hysterie. Bei den Castorf-Frauen sowieso. Lilith Stangenberg, Margarita Breitkreiz, Jeanne Balibar kommen kaum einmal zum Durchatmen. Sophie Rois, als Hausdiener bei den Karamasows, hat keinen großen Part, aber ihren eigenen Ton. Stille Panik.

Bei Kathrin Angerer ist es wieder anders. Sie rast in einem furiosen Solo durch ihr Leben, ihre Lieben; die Gruschenka, mit der jeder ins Bett will, da wächst eine Figur aus dem schwarzen Boden, eine Geschichte, ein Mensch. Man kann sechseinhalb Stunden Theater nicht aushalten, ohne einem Menschen zu begegnen, dem man zuhört. Der nicht bloß ein Lautsprecher ist. Man braucht ein individuelles Gegenüber. Sonst ist das Theater hier reine Demonstration, Behauptung.

Bei den Männern kämpfen sich Hendrik Arnst und Alexander Scheer am besten durch. Arnst, ein Castorf-Kumpel aus Urzeiten, war selten so präsent, sprachlich kühl und genau: Der alte Karamasow säuft und hurt, ein massiger Misanthrop, ein Schwein von Vater mit zartem Kern. Sein Sohn Iwan, der Intellektuelle, wird nach und nach zur Hauptfigur, behauptet sich gegen Bruder Alexej, Daniel Zillmann, und Dmitrij, Marc Hosemann.

Nach der Pause Alexander Scheer auf dem Dach der Volksbühne, mit der Erzählung vom „Großinquisitor“, die dem Roman eingeschrieben ist: Christus kommt zurück und stört die Mächtigen, soll ein weiteres Mal zum Tod verurteilt werden. Die Argumentation des Kirchenfürsten entfaltet den Totalitarismus. Am Schluss hat Scheer einen noch stärkeren Auftritt – wenn er mit Holbeins berühmtem Christusbild ringt, das eigentlich in den „Idiot“ von Dostojewski gehört und von dem es heißt, es sei ein Bild, das den Glauben auslöschen könne. Iwan ist jetzt ein Gottesirrer, ein Gottesnarr, der nackte Teufel in Gestalt von Jeanne Balibar erreicht ihn auch nicht mehr.

Die endlose Schreitherapie nervt schrecklich, raubt Lebenskraft. Wovor haben sie Angst? Das fragt dann endlich auch einer der Akteure, Frank Büttner, in der Rolle des Priesters. Er schreit am lautesten. Und geht ganz leise ab. Sie könnten einem leidtun. Wenn es nicht so viel Selbstgerechtigkeit gäbe in der Volksbühne, Bunkermentalität. Ihr werdet uns bitter vermissen: Das Gefühl wird groß inszeniert. Es stimmt ja auch. Man vermisst sie, die wildschöne Volksbühnenzeit. So wie man eine Jugend vermisst, eine Liebe oder eine langjährige Freundschaft.

Wieder am heutigen Sonntag, 14 Uhr, sowie am 14., 20., 22., 27. und 29. November.

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