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Kultur: Die Dämonen des Guten

Ein Schmerzensmann als Frauenheld: Frank Castorf inszeniert Dostojewskis Roman „Der Idiot“ an der Berliner Volksbühne. Sechs Stunden herrliches und grässliches Video-Theater – mit Martin Wuttke als grandiosem Titelhelden

Kein anderer Regisseur lässt uns heute im Welttheater derart taumeln, schweben, stürzen zwischen absoluter Begeisterung und völliger Ernüchterung, Verwünschung, Erschöpfung. Frank Castorf spielt mit dem Publikum (und seinen Akteuren) Himmel und Hölle.

Himmel und Hölle ist auch ein Kinderspiel. Doch die Springer sind Castorf und seine Compagnie, wir im Publikum sitzen fest. Sechs Stunden diesmal, von sieben bis ein Uhr nachts in der Berliner Volksbühne beim „Idiot“, C & C’s jüngster Dostojewski-Dramatisierung. Und wieder behauptet Castorf seine Spitzenstellung in Collagekunst, mixt Literatur und Popkultur, Roman und Schlager, Theater, Film und Fernsehen – und mit perfider Raffinesse den Osten und Westen. Nicht „St. Petersburg“ wie zum Anfang von Dostojewskis 1868/69 veröffentlichtem Tausendseitenbuch, sondern „Las Vegas“ signalisiert hier die erste Station. Dort kehrt, 3. Bahnklasse, ein junger Reisender aus dem Ausland heim, der sich trotz äußerlichen Armut und seiner ihn zum „Idioten“ stempelnden Einfalt als Fürst Myschkin entpuppt. Martin Wuttke spielt diesen Fürsten in Jeans, Polohemd und Anorak, unrasiert, abgerissen, der letzte kleine Dreck. Aus dem im Laufe des langen Abends ein wunderlicher Held der west-östlichen Welt erwächst. An Orten und in einem Bühnenbild, wie man es im Theater kaum je gesehen hat.

Der Dichter Dostojewski war ein manischer Spieler, der in den künstlichen Russen-Paradiesen des 19. Jahrhunderts, vor allem in den Spielbanken von Wiesbaden und Baden-Baden, sich ins Unglück stürzte. „Las Vegas“ aber ist hier kein Casino, nur die grellrote Aufschrift vor einer schäbigen Bar, die wie das ganze Haus mit seinen fahl beleuchteten Zimmern als Puff, als Absteige erscheint. Und Castorf steigt wieder virtuos aus und um. Als Zusammenklauber und Zusammendenker des scheinbar Disparaten ist er der wahre Globalisierungskünstler. Ein Kulturen- und Weltenvermischer, oben und unten, rechts und links, Ost und West.

Auch „Der Idiot“ ist so ein Eastern, Dostojewskis wüste, wilde Seelen sind längst verwestet. Das hat bei Castorf Konsequenz. In „Endstation Amerika“, nach Tennessee Williams, hat er über die (Brando-bekannte) Figur des Einwanderers Kowalski seine Endstation Sehnsucht für jene Polen imaginiert, für die schon der deutsche Osten das erste Stück Westen bedeutet auf dem American way of life. Und in den beiden vorangegangenen Dostojewski-Dramatisierungen der „Dämonen“ und der „Erniedrigten und Beleidigten“ war schon jederzeit klar, woher der Wind weht, wenn die alten Russen im Theater auch die Neuen Russen sind.

Fürst Myschkin, Spross aus verarmtem Uradel, kommt zu Beginn aus der Schweiz, wo der junge Mann als Epileptiker und Kindskopf in Kliniken behandelt wurde. Jetzt sucht er in Petersburg entfernte Verwandte und bietet sich einer Gesellschaft der abgetakelten Offiziere, erbschleichenden Beamten und Krämer nebst sentimentalischen Müttern, heiratsnötigen Töchtern und Kokotten mit edlen Seelen dar: als heiliger Narr und unseliger Schwärmer, als Trottel und Philosoph, romantisch irgendwie und gutherzig sowieso. Ein russischer Don Quichote, in dem Dostojewski auch seinen „Fürst Christus“ sah, und Walter Benjamin las den Roman vom Schmerzenskindmann auch als Drama des (vor-revolutionären) Scheiterns der russischen Jugend. So viel Metaphysik aber verwandelt F. C. sogleich in doppelte Physik. In Körperaktion und Kopfbewegung.

Das beginnt schon im Szenenbild. Der fabelhafte Bert Neumann, gerade zum „Bühnenbildner des Jahres“ gewählt, hat das Theater am Rosa-Luxemburg-Platz zu Beginn dieser Saison ja in eine „Neustadt“ umgebaut: our little town, mit veritablen Gassen, Pätzen und Häusern. Eben noch saßen die Zuschauer darin bei René Polleschs „24 Stunden sind kein Tag“ auf einer Freitreppe; jetzt wird auch die bespielt, während das Publikum aus aufgeschnittenen Containern in die von Absteigen, Appartmenthäusern, einem verglasten Lebensmittelmarkt, einer Trinkhalle, einem leuchtenden Kino und einem Meeresprospekt gesäumte Spiel-Stadt schauen. Und weil die Container mitten auf der Drehbühne stehen, kreist man mitunter durch diese meist nächtliche Welt. Das ähnelt dann auch einem mächtigen Kameraschwenk.

Apropos: Wie in seinen letzten Aufführungen arbeitet Castorf wieder mit einer Vielzahl festmontierter oder von diskret auftretenden Technikern geführten Videokameras. Das Theater läuft dabei synchron auf mehr als einem Dutzend Fernsehschirmen und mehreren Leinwänden – und mehr denn je verschwinden die Schauspieler in den eingebauten Häusern und Räumen, sind in Türen oder an Fenstern nur noch stückweise oder gar nicht mehr zu sehen. Die Stimmen kommen dann aus dem Off, und die Bilder von Schirmen und Leinwänden, weil in den verdeckten Innenräumen ständig live gefilmt wird. Diese Stadt im Reich des Zaren und der Medien wirkt darum auch wie ein perfekter Überwachungsstaat.

Trotzdem sind es nicht so sehr die Orwell-Assoziationen, die sich aufdrängen. Erstmal besticht die brillante Kamera-Regie, das oft gespenstische, magische Licht vor allem in den winzigen, als Wunderkemena erscheinenden Spielräumen, die – immer nur in Fragmenten – eine Spukwelt öffnen: mit chinesischen Lacktapeten, gruselglitzernden Kristalllüstern, kleinbürgerlichen Wohnzimmern, unheimlichen Dachböden und eroscenterhaften Liebeslauben, die schon Leichenkammern zu Lebzeiten bieten.

In solchem Panoptikum werden die Figuren auch zu Gespenstern. Zu Zeitgeistern. Die tolle Sophie Rois etwa gibt als Generalin mit weißblonder Perücke Einblicke in die Seele eines Eiszapfens: schmelzend, wenn Mutterglück sich mit einem Hauch Alterssex mischt, kaum dass ein jüngerer oder irgend lukrativer Heiratskandidat sich ihren Töchtern nähert; kaltköpfig, wenn das eigene Chaos oder das Durcheinander um sie herum überhand nehmen – dann greift sie gegenüber Mann und Mädels schon mal als Domina zur Reitpeitsche. Und die Töchter, zuerst in Pumps und Tütüs, später in Cowboyhüten, Jeans und superspitzen Lederstiefeln, sind gleichermaßen scharfe chicks und sentimentalische Russenhühner, von Margarita Breitkreiz, Irina Potapenko und Cordelia Wege glänzend variiert: mal kulleräugig, mal spottmündig, mit slawisch schweren Zungen so gut wie mit amerikanischen Schlagern im offenen Herzen.

Überhaupt sind die Damen allesamt Seelchen und Biester, das erfährt Martin Wuttkes verzweifelt und verzückt staunender Fürst Idiot schon zur Begrüßung in der Generalsfamilie: Die Frauen ziehen ihn aus und auf, er tanzt und hampelt und stürzt als Bananenschalenclown, bis er halb tot vorm „Las Vegas“ liegt. Aber zwischenrein malt der Geschundene für eine der Töchter, die gerne Künstlerin werden will, das unsichtbar luftige Bild fremden, nicht eigenen Leidens ans Schaufenster der Absteige. Nur mit den Fingerspitzen – und bezaubert als rührend Erschütternder die Frauen.

Zwischen solch dichten Szenen freilich gähnen auch Leerräume, Leerläufe. Frenetischer Jux und fantastischer Aberwitz kippen bei Castorf dann ins albrig Beliebige. Genau auf dieser Grenze ist nach gut zweieinhalb Stunden Pause. Danach beginnt es mit einer grandiosen Szene (siehe auch unser Bild): Wuttkes Myschkin, der vom stillen, stammelnden Dulder im zweiten Teil immer mehr zum humanistischen Dämon und verklemmt enthemmten, keusch geilen Frauenhelden wird, steht in grüngelblichem Geisterlicht am Fenster eines Hauses und spricht mit seinem noch unsichtbaren Freund und Nebenbuhler Rogoschin (Bernhard Schütz); der scheint aus einer anderen Welt – im Fernseher – zu antworten, bis man durch eine neue Kameraeinstellung merkt: Schütz sitzt im Zimmerinneren direkt hinter Wuttke. Die frappante Mischung aus Leibhaftigkeit des einen und medialem Abbild des anderen erzählt, wie unentrinnbar nah und fern sich hier nicht nur zwei Menschen, sondern Realität und Virtualität auch im Kopf des Zuschauers sind.

Oft aber geht’s dem Zuschauer nur so wie dem Gast einer Bar in Italien oder Spanien, wo der Fernseher läuft. Man kriegt den Blick nicht weg, nichtmal vom stummen Bild, das tötet jedes Gespräch. Oder Sportreporter im Stadion gucken nur noch auf ihre Monitore, Realität und Reisekosten überflüssig. Was aber im Theater bisher nur ein dramaturgischer Nebeneffekt war, wird im „Idiot“ nach der beschriebenen Szene immer mehr zur Hauptsache, auch zum Tick: Etwa anderthalb Stunden lang bietet Castorfs Inszenierung dann überhaupt nur noch Video. Und zwischen elf und eins nachts im Plasteschalensessel verflucht mein Rückgrat diesen Regisseur, den genialen Schuft, der wie ein piesiges Kind, wie ein launischer Gott sein bisheriges Werk wieder zerstört: der Nebenfiguren nun plötzlich uferlos quatschen lässt, der in einer Langeweile-Folter des Nicht(voll)endenwollens selbst den Mord an der schönen Nastassja (Jenanett Spassova) zum Finale versiebt, verspielt, nachlässig verschenkt.

So trifft das glänzende Ensemble um den grandiosen Martin Wuttke zum Schlussbeifall nur noch auf erschöpft verärgerte Bewunderer. Zwei Stunden am Triumph vorbei.

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