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Kultur: Die debile Republik

Über alte und neue Gurus, Guildos und GagaVON JAN SCHULZ-OJALARio Reiser hat die Krönungsmesse nicht mehr erlebt.Dabei hatte er sich selbst und den Fans für seine Regentschaft als "Rio I.

Über alte und neue Gurus, Guildos und GagaVON JAN SCHULZ-OJALARio Reiser hat die Krönungsmesse nicht mehr erlebt.Dabei hatte er sich selbst und den Fans für seine Regentschaft als "Rio I." doch so schöne Sachen versprochen.Jeden Tag im Jahr wollte er Geburtstag haben, die Lottozahlen wollte er immer eine Woche vorher verraten und, Gipfel des Segens, "im Fernsehen gäb es nur noch ein Programm, Robert Lembke 24 Stunden lang." Das alles und noch viel mehr forderte er, aber König von Deutschland ist der Anarcho-Berliner leider nicht geworden.Friede deiner Asche, Spaßguerillero!Heute, im Jahre XII nach Reisers Royal-Hymne und im Jahre II nach seinem Tod, ist der königliche Spaß vorbei.Das heißt, er wird mit deutscher Gründlichkeit betrieben.Folglich wimmelt es in diesem Lande nur so von gekrönten Häuptern.Gerade haben sie in Kaiserslautern König Otto (proletarisch: Rehhagel) inthronisiert.Länger schon regiert, fühlbar olympischer noch, Kaiser Franz (bürgerlich: Beckenbauer).Und wo noch früher die Tennisbarone (adlig: von Cramm) das Racket schwangen, tut es heute kein besseres Röckchen mehr, ohne daß man es terminologisch zur Tennisgräfin, pardon: -königin gelupft hätte.Und dann ist da noch Zar Boris: Becker? Jelzin? Ach was, gleich beide.Über allen aber schwebt seit Wochen, irgendwo zwischen den höchsten irdischen Gurus und Gott höchstpersönlich, Guildo, der "Meister".Was ist los, Leute? Leben wir nicht in einer Republik? Schon, da war mal was.Blicken wir allerdings auf die Inflation der Hof-Berichte, so scheint sie derzeit ziemlich am Ende.Oder taumelt zumindest steuerlos (kleinbürgerlich: Kohl).Ihre dienstälteren Repräsentanten, das Zepter in der schlaffen Hand, eignen sich längst nicht mehr zum Untertanenjubel, und die Hoffnungsträger, die in besseren Zeiten ordentlich was weggemeuchelt hätten, sitzen dumm rum mit dem Dolch im Gewande.So geht das seit Monaten, und so wird das noch Monate gehen.Im Herbst gibt es zwar eine neue Herrscherwahl, die so oder so - und hoffentlich nicht so - ausgeht, einstweilen aber spielt der republikanische Hofstaat verrückt.Zugleich passiert nichts, jedenfalls nichts von Bedeutung.Erst kommt die Aggression, dann kommt die Regression.In diesem Frühjahr nun ist das Fürstentum Deutschland eindeutig von seinem infantilen Stadium in das debile eingetreten.Man mag sich damit trösten, daß, royalistisch betrachtet, andere schon fast genauso weit sind.Wenn der Amerikaner James Cameron bei der Oscar-Verleihung "Ich bin der König der Welt!" ruft, womit er einen Satz aus seinem eigenen "Titanic"-Drehbuch zitiert, und niemand widerspricht - ist das nicht ein weiteres untrügliches Zeichen für den Weltuntergang der Vernunft? Und geben Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in der immer närrischer sich gebärdenden Unterhaltungsindustrie nicht schon seit Monaten ein besonders wertvolles Prinzenpaar ab? Zu schweigen von der britischen "Königin der Herzen": Hand aufs steinerne Herz, lieber Leser und, mehr noch, liebe Leserin - könnte nicht in eben jenem Herbst, als die vom letzten ebenso realen wie mythischen Hof dieses Globus vertriebene Jet-Set-Queen starb, die Welt in eine fast schon intergalaktisch anmutende geistig-seelische Umnachtung gestürzt sein?Die Krone des Königskults aber gebührt derzeit den Deutschen.Seit der televisionären Altersweihe eines ordinären Schlager-Piepmatzes haben sie, hierin wie immer beobachtet und zugleich angefeuert von den Medien (gutbürgerlich: Der Tagesspiegel und viele andere mehr), schlichtweg einen Vogel.Niemand, man weiß es, liebt sie in der Welt, die häßlichen Deutschen - da hebt es ungemein, daß wenigstens einer, ihr häßlichster, sie ausdrücklich liebt.Und sie, draußen in der Welt, angemessen repräsentiert.Zeitgemäß zudem: Die römischen Imperatoren gaben ihrem Volk zwecks Ruhigstellung Brot und Spiele.Heute geht das Brot aus da und dort und dort auch, nicht aber die Spiele, die wir unseren stets präsenten Medienmonarchen verdanken.Behauptet hier jemand, der Mensch lebt nicht vom Spiel allein? Gib es zu, auch du, mein Sohn Brutus, glotztest nach Birmingham, in der Nacht zum Sonntag, als der Vogel abgeschossen wurde.Ach, "Rio der Erste, Sissi die Zweite", sing uns doch noch was, breit berlinernd, stimmlich sauber und sinnlich schmutzig! "Ich denk mir, was der Kohl da kann, das kann ich auch." Kann heute jedes Kind."Im Fernsehen gäb es nur noch ein Programm, Fußball-WM 24 Stunden lang." Wird demnächst umgesetzt."Alles Lüge und noch viel mehr." Hast ja so recht, Rio.Leg dich wieder hin.Träum weiter.

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