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Kultur: Die Erfindung der Türkei

Der Schriftsteller Orhan Pamuk über osmanische Traditionen, Verwestlichung und die Zukunft Europas

Herr Pamuk, die Helden Ihrer Bücher sind außerordentlich ehrgeizig. In „Die weiße Festung“ und „Das schwarze Buch“ wollen die Protagonisten nicht weniger als ihre Identität wechseln, in „Das neue Leben“ wird eben dieses neue Leben ersehnt, in „Schnee“, Ihrem letzten auf Deutsch veröffentlichten Buch, verzehrt sich der Held – beinahe muss man sagen: nur – nach der Liebe einer schönen Frau. Warum gibt es so viel Ehrgeiz in Ihren Büchern?

Vielleicht bin ich ein ehrgeiziger Mensch! Wenn ich einen Roman schreibe, dann reiße ich mich um die schwerste Aufgabe. Ich kenne nur ein Ziel: große, ambitionierte Bücher zu verfassen. Natürlich kann dieser Radikalismus einen auch dazu bringen, große KitschBücher zu schreiben. Aber so bin ich nun einmal. Ich sympathisiere mit Protagonisten, die genauso ambitioniert sind, und versuche, sie zu erfinden. Sie träumen die Träume der Armen, der Unterdrückten, der Verlierer. Das ganze türkische Verwestlichungs- und Modernisierungsprojekt hat ja eine naive Seite. Es gleicht einem strebsamen armen Studenten, der nichts sehnlicher wünscht, als Teil des Westens zu werden. Ehrgeiz ist die Hoffnung, ich würde nicht sagen: der Armen, aber derjenigen, die nichts haben. Und ich selber hatte auch das Gefühl, nicht viel zu haben. Es ging nicht so sehr darum, dass es hier keine Kultur gegeben hätte, sondern darum, dass es im Westen eine gab, die man sich aneignen wollte. Daher war das Gefühl, stets im Wettbewerb zu stehen, sich beweisen zu müssen, nicht nur eine unentbehrliche Voraussetzung für den Blick dieser Kultur auf die Welt, sondern auch für die Kultur, die Leute wie mich hervorbrachte. Ich war stets voller Ehrgeiz. Kierkegaard charakterisiert den unglücklichen Menschen als jemanden, der nicht in der Gegenwart leben kann. Er lebt entweder in der Vergangenheit oder der Zukunft. Ehrgeiz ist Opium für diejenigen, die in der Zukunft leben.

Sie haben mehrere Jahre in den USA gelebt. Hat diese Erfahrung Ihren Blick auf die Türkei verändert?

Mein Blick auf die Türkei hat sich nicht verändert – meine Sicht der Literatur hat sich gewandelt, meine problematische Beziehung zur so genannten Tradition, diesem gehätschelten Liebling der Konservativen. Mitte der Achtziger las ich in New York viel Avantgarde, Postmoderne, Experimentelles. Das meiste war stark von Borges beeinflusst, von Calvino, Pynchon und John Barth. Ihre Vorstellungen von Erzählungen als etwas Fantastischem ließen mich zurückkehren zu den traditionellen islamischen Sufi-Schriften. Diese eher persische als türkische Tradition ist ein großer Schatz, aber ich kannte ihn nicht, und meine Generation wusste nicht, wie sie ihn heben soll. Wir waren gehemmt durch den starken Wunsch nach Verwestlichung und Säkularisierung, und wie Marcel Duchamp, das Alte wieder zu benutzen, das wurde von einer früheren Autorengeneration in der Türkei als reaktionär, islamisch und unmodern angesehen.

Ihre Bücher sprechen von den zentralen Problemen Ihres Landes. Man kann sie als Reisen in das Herz der türkischen Finsternis und ihrer hellen Episoden lesen. Warum kommen Sie davon nicht los?

Weil dieses Land in den letzten 200 Jahren unter Aufbietung aller Kräfte durch den Staat versucht hat, dem Westen ähnlich zu werden. Das bedeutet nichts anderes, als dass unsere Geschichte unglücklich ausgegangen ist. Wir haben irgendetwas verloren, also müssen wir uns etwas Neues aneignen. Das hat die regierende Elite der Nation, dem Volk, der öffentlichen Meinung eingehämmert. Ich bin ein Kind dieser Kultur. Wenn es aber solch einen starken Willen zur Veränderung einer Kultur gibt, dann entsteht natürlich Widerstand. Diese Kultur als Ganzes besteht aus dem Kampf zwischen – nennen Sie es, wie Sie wollen – Tradition und Moderne oder Ost und West, wovon Journalisten gern sprechen, oder Vergangenheit und Zukunft.

Auch Österreich oder Großbritannien haben ein Imperium verloren.

Okay, ich sage Ihnen, was an der Entwicklung in der Türkei einzigartig ist. Großbritannien hatte ein Empire und verlor es, ist aber nicht so traurig wie die Türkei. Denn die Briten hatten das Gefühl, dass die USA ihre Geschichte fortsetzen. Kemal Atatürks offizielle Kulturpolitik aber lief auf ein „Vergessen wir die Osmanen“ hinaus. Diese Generation war von positivistischen französischen Gedanken durchdrungen und dachte: Warum fiel das osmanische Reich? Wegen der Religion, wegen des Islam. Lasst uns also den Islam unterdrücken, damit wir westlich werden. Außerdem gibt es das Empire nicht mehr, aber die Lebensqualität in Großbritannien ist weiterhin hoch. Das gilt auch für andere europäische Nationen. Doch hier sank die Lebensqualität. Türken waren und sind darüber zu Recht beunruhigt. Es prägt ihr Lebensgefühl, dass sie am Rand von Europa leben und im Jahr ganze 3000 Euro pro Kopf verdienen, während es in Europa 30000 sind.

Woraus könnte denn eine neue türkische Identität entstehen?

Meine Bücher mögen davon handeln, aber ich kann es Ihnen nicht sagen. Doch ich weiß, dass Türken sich zu Recht Sorgen machen, zu wenig Geld zu verdienen, zu wenige Güter zu produzieren, nicht erfinderisch genug in der Technik und nicht kreativ genug zu sein in den Künsten. Kritisch sehe ich allerdings die Ängstlichkeit im Denken, die um die Identität kreist. Das geht zu weit. Wir Türken hören überempfindlich auf das, was andere über uns sagen.

Dann ist der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union die Lösung des Problems?

Ich bin natürlich für die Aufnahme der Türkei in die EU. Aber es ist nicht so einfach, dass wir dann wohlhabend werden und alle Probleme gelöst sind. Europa ist nach den Referenden in Frankreich und Holland mit sich selbst beschäftigt. Es ringen verschiedene Ideen über den Charakter der Union miteinander. Definiert sich Europa ausschließlich über die Vergangenheit? Das ist eine konservative Ansicht, und sie lässt letztlich alles auf Diskussionen über die Agrarpolitik und die Verteilung von Geldern zusammenschrumpfen. So ist es immer bei kurzatmiger Politik. Aber langfristig braucht Europa eine umfassende Vision von sich, und daher empfehle ich die Aufnahme der Türkei. Es geht ja auch um Identität. Doch Identität ist kein Schicksal, sie kommt nicht nur aus der Vergangenheit. Identität wird erfunden. Die Idee des türkischen Beitritts zur EU gehört eher zur Zukunft als zur Vergangenheit.

Sie sind Anfang des Jahres nach einem Interview, in dem Sie ermordete Armenier und Kurden erwähnt haben, bedroht worden und haben die Türkei für einige Monate verlassen.

Ich möchte das nicht überbewerten. Es ist eine recht normale Sache nicht nur in der Türkei, sondern überall auf der Welt, dass aufgebrachte Menschen, besonders, wenn Boulevardzeitungen einen zum Feind des Volkes erklären, den Verleger anrufen oder Briefe schreiben und drohen: Wir werden Dich umbringen. Als es zu viel wurde, schlugen meine Verleger vor, dass ich doch eine Einladung der Columbia University in New York annehme. So einfach war das. Ich habe Glück gehabt, mir ist nichts passiert. Ja, es gab hitzige und hasserfüllte Reaktionen auf meine Äußerungen. Aber ich verstehe sie als Teil der türkischen Realität.

Dass Sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten, hat man in Deutschland als eine sowohl literarische wie politische Entscheidung verstanden.

Sehen Sie, ich schreibe jetzt seit 30 Jahren Bücher. Solch ein wichtiger Preis hilft, er ist eine Ehre. Ich war geschmeichelt. Ich bin sehr froh darüber. Andererseits: Man weiß nie, warum man einen Preis bekommt. Für dieses Buch? Oder jenes? Als Thomas Mann den Nobelpreis erhielt, ärgerte er sich, weil nur der Roman „Die Buddenbrooks“ erwähnt wurde. Er hätte gern gesehen, wenn das Nobelpreis-Komitee auch den „Zauberberg“ erwähnt hätte. Es ist sinnlos, über die Gründe nachzudenken.

Das Gespräch führte Jörg Plath.

Orhan Pamuk, am 7.Juni 1952 in Istanbul geboren, ist der erfolgreichste türkische Romancier seiner Genertion. Seine Bücher sind in 34 Sprachen übersetzt, erscheinen in über 100 Ländern und haben eine Gesamtauflage von mehr als einer Million Exemplaren.

Pamuk stammt aus einer Fabrikantenfamilie , besuchte in seiner Heimatstadt das englischsprachige Robert College und studierte zunächst Architektur und Journalismus.

Der internationale Durchbruch gelang ihm mit dem 1985 erschienenen Roman „Beyaz Kale“ (Die weiße Festung, dt. 1990): der Geschichte über einen venezianischen Sklaven und seinen osmanischen Herrn. Im Oktober erhält er in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

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