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Kultur: Die erträumte Renaissance

Sinnliche Frauen: Amsterdam widmet dem englischen Maler Dante Gabriel Rossetti eine opulente Ausstellung

Ein Bukett welkender, blasser Rosen leitet in die Ausstellung zum Werk von Dante Gabriel Rossetti im Amsterdamer Van Gogh- Museum. Schwere, dunkle Stoffe drapieren effektvoll Teile der Wände. Das viktorianische Zeitalter tritt assoziativ vor Augen. Rossetti (1828-1882), Sohn eines italienischen Immigranten und Professors für Italianistik an Londons renommiertem King’s College, ist einer der herausragenden Künstler dieser Epoche – und zugleich auf eigentümliche Weise ihr Widerpart. Erneut stellt das Amsterdamer Haus damit einen Künstler vor, dessen Tätigkeit sich zumindest teilweise mit der kurzen Schaffenszeit seines Namensgebers überschneidet – um die Vielfalt des 19. Jahrhunderts anschaulich zu machen.

Rossetti, schwärmerisch veranlagt und vielfältig begabt, begeisterte sich für die Dichtung seines Namenspatrons Dante wie fürs Mittelalter, für katholische Mariendarstellungen und für hohe Moral. Er machte bereits als 20-Jähriger Geschichte, als er gemeinsam mit zwei Gesinnungsgenossen die „Brüderschaft der Prä-Raffaeliten“ begründete, die die an den Akademien gelehrte Kunst bekämpfte und für die Rückkehr zur Frührenaissance eintrat. Er selbst hatte nie eine akademische Ausbildung absolviert.

Die Brüderschaft übte im England der frühen viktorianischen Zeit enormen Einfluss aus, hatte indessen nur wenige Jahre Bestand. Rossetti dichtete, war als Poet durchaus bekannter denn als bildender Künstler. Öffentliche Ausstellungen seiner Werke lehnte er zeitlebens ab, war aber in immer neuen und weiteren Zirkeln gleichgesinnter Freunde und Förderer überaus präsent.

1860 dann erfolgte eine radikale Wende in seinem Werk, als er die Reihe seiner berühmten, sinnlichen Frauenbildnisse begann, die so sehr die andere Seite der viktorianischen Doppelmoral beleuchten, heute indessen nicht mehr in ihrer ganzen Sprengkraft verstanden werden, kaum mehr ihre einstige Sprengkraft verraten. Dass Rossetti bald nach seinem Tod als Erneuerer der englischen Kunst, ja als Vorläufer der Moderne gefeiert wurde, würde deutlicher, wenn der Kontrast seiner Auffassung zur tatsächlich viktorianischen Salonkunst gezeigt würde.

Das versäumt die Amsterdamer Retrospektive. Sie kapselt ihren Protagonisten vielmehr in seine eigene, durch und durch literarisch geprägte Welt ein. Die Ausstellungsgestaltung ruft mit ihren dunkelfarbigen Wänden die Atmosphäre damaliger Landhäuser hervor. Das entspricht Rossettis Kunst in ihrem höchst privaten Charakter; so wurde sie auch vom Kreis ihrer Verehrern genossen. Dennoch – hin und wieder ein Ausblick auf den in dramatischem Tempo und unter ungeheuren Verwerfungen sich vollziehenden Wandel der britischen Industriegesellschaft würde ungemein erhellend wirken.

Auch Rossetti konnte sich dagegen nicht vollständig abschotten. In dem Gemälde „Gefunden“ von 1854/55 zeigt er einen nach London gekommenen Bauern, der buchstäblich in der Gosse eine frühere Dorfbewohnerin – oder, in dieser Doppeldeutigkeit typisch für Rossettis Bildsprache, womöglich Geliebte – wiedererkennt, die zur Prostituierten verkommen ist und sich in verzweifelter Scham von ihm abwendet.

Ein derartiges zeitgenössisches, moralisierendes Genrebild hat der Künstler später nicht mehr in Angriff genommen. Zur selben Zeit wie „Gefunden“ arbeitete er an dem Altar-Triptychon „Die Saat Davids“ für die Kathedrale des walisischen Cardiff (die das Werk für die vom Nationalmuseum Liverpool nach Amsterdam geschickte Ausstellung erstmals verlassen durfte). Effektvoll aus dem Dunkel des Saales heraus beleuchtet und von liturgischer Musik hinterlegt, lässt das – durchaus eigenwillige und wie stets bei diesem Maler erstaunlich farbkräftige – Altarbild die gewollt vor-moderne Atmosphäre des damaligen Künstlerkreises erahnen.

Rossettis eigenes Lebens böte Stoff für ein viktorianisches Epos. Seine von ihm hoch verehrte, stets kränkelnde Ehefrau Elizabeth Siddal starb im Alter von 33 Jahren an der Überdosis eines schmerzlindernden Narkotikums; er selbst litt später unter den Folgen neuartiger Medikamente, die seine chronische Schlaflosigkeit lindern sollten. Gegen 1860 wurde Rossetti ganz diesseitig: Er erkor sich mehrere Musen, insbesondere die rothaarige und in den zahlreichen Portraits trotz kostbarer Kleidung wahrhaft irdisch wirkende Fanny Cornforth. Dann entdeckte Rossetti die Stallknechtstochter Jane Burden, die den von ihm geförderten, jüngeren Kunsthandwerker William Morris heiratete, den Mittelpunkt der Arts & Crafts-Bewegung, mit dem Maler wohl aber eine ménage à trois unterhielt. Die gleichfalls in der Ausstellung gezeigten Portraitfotografien der Jane Burden zeigen, wie weit die Idealisieirung dieses handfesten Geschöpfes ging.

Als „Lady Lilith“, „Venus Verticordia“ oder „Bocca Baciata“ wurden die Bildnisgemälde in eine erträumte Renaissance verwiesen, wobei sich Rossetti auf Tizian als Vorbild berief – im Unterschied zu diesem aber ein reichlich buntes Lokalkolorit pflegte. Was zu Tizians Zeiten als „Kurtisane“ einen sehr präzisen sozialen Status besaß, erschien den viktorianischen Zeitgenossen schlicht als – sittenloses Weib. Gesellschaftlich waren Rossetti und Konsorten, allem wohlhabenden Dandytum zum Trotz: Außenseiter.

Gerade in ihrer verdeckten und damit zugleich umso anziehenderen Sinnlichkeit, in den zahlreichen Anspielungen auf Beziehungen und Liebesdienste machten die Gemälde Sensation. Sie sind auch in der Amsterdamer Ausstellung, wo gleich ein Dutzend der heute weit verstreuten und im angelsächsischen Raum aufs Höchste geschätzten Bildnisse versammelt werden konnten, von bezwingendem Reiz. Doch erscheinen sie heute als Ausdruck des Ästhetizismus, den eine hoch gebildete und den Mühen des Alltags enthobene Geistesaristokratie der Vulgarität des Industriezeitalters entgegensetzte. Rossetti war in Dantes Göttlicher Komödie ebenso zu Hause wie an der Tafel König Arthurs. Die prosaische Realität Londons, wo er zeitlebens wohnte, wusste er vollständig auszublenden. Er verkörpert die stille, doch so ungemein wirkungsmächtige Sehnsucht seiner lärmenden Epoche nach Beseelung und Erfüllung.

Amsterdam, Van Gogh Museum, bis 6. Juni. Katalog holländisch oder englisch, 27,50 €.

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