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Kultur: „Die Frage nach der Reue ist doch berechtigt“

Mehr Gerechtigkeit, weniger Elend: Der Physiker Oliver Moldenhauer, 31, ging zu Attac, weil er glaubt, Veränderung entsteht in den Köpfen der Menschen. Karl-Heinz Dellwo, 50, war bei der RAF, weil er die Gesellschaft mit Gewalt verändern wollte. Ein Gespräch über Grenzen und Grenzverletzungen des Widerstands.

Moldenhauer: Ich fand es witzig zu lesen, Herr Dellwo, dass Sie Geschäftsführer einer Softwarefirma sind. Haben Sie im Gefängnis etwas mit Computern machen können?

Dellwo: Nein, Computer waren verboten. Ich hätte natürlich gern einen gehabt. Doch mein einziger Kontakt damit war ein Computerkurs in den letzten drei Monaten meiner Haftzeit. Ein bisschen Excel, ein bisschen Word, das war’s dann.

Moldenhauer: Mit Ihrer Biographie einen Job zu finden, ist bestimmt nicht einfach.

Dellwo: Sicher. Auch sehe ich für mich keine Möglichkeit, in einem normalen Betrieb zu arbeiten und zu funktionieren. Unsere Firma besteht aus lauter Seiteneinsteigern. Wir wollten selbstständig sein, obwohl das letztlich auch eine Illusion ist. Vor allem will ich für mich selber sorgen können und in einem Kontext arbeiten, in dem auch anderes möglich ist. Ich habe mich mal bei Attac als Kampagnenkoordinator beworben…

Moldenhauer: …ich erinnere mich noch genau, als das Schreiben bei uns gelandet ist. Sie wollten damals nicht nach Köln ziehen, stimmt’s? Das war letztlich der Grund, warum eine Einstellung nicht infrage kam, auch wenn wir, ehrlich gesagt, darüber nachgedacht hatten, wie das nach außen wirken würde, Sie bei Attac zu haben.

Sie haben es sich auch lange überlegt, ob Sie heute mit Herrn Dellwo reden wollen.

Moldenhauer: Nein, ich finde es sogar interessant. In der Kneipe – kein Problem. Aber offiziell – sozusagen als Vertreter von Attac? Das hätte auch so aussehen können, als ob es um einen Vergleich zwischen RAF und Attac geht, das könnte komische Assoziationen wecken. Wir haben schon mit unserem n ständig Schwierigkeiten. Attac – das klingt für viele so aggressiv, dabei ist das nur ein französisches Akronym. Und schon sind wir bei der Gewaltfrage, diese Debatte steht mir hier oben… Da liegt mir die Debatte um unsere Ziele wesentlich mehr am Herzen.

Sie kommen um diese Frage nicht herum. Was machen Sie mit? Was nicht?

Moldenhauer: Völlig klar ist für mich: Nichts, was Menschen an Leib und Leben schädigt, ist zulässig! Aktionen zivilen Ungehorsams hingegen können akzeptabel sein, auch wenn sie, wie die Proteste gegen Castor-Transporte, illegal sind, gegen Straßenverkehrsordnung und Demonstrationsverbot verstoßen. Auch wenn in Frankreich José Bové eine McDonald’s-Filiale zerlegt, finde ich das eher harmlos. Davon geht McDonald’s nicht pleite, und die Bevölkerung kann den Sinn so einer Aktion verstehen. Ganz im Gegensatz zu den Aktionen der RAF, die politisch und moralisch untragbar waren.

Woher nahm die RAF das Recht in Anspruch, über das Leben anderer zu entscheiden?

Dellwo: Über Leben und Tod wird – von den Herrschenden – permanent in der Welt entschieden. Unsere Analyse damals war, wenn wir nicht zu Gewalt greifen, können wir alle Hoffnungen begraben. Keiner von uns fand Gewalt selbstverständlich, wir wussten, dass sie eindeutig dunkle Seiten hat, auch moralisch fragwürdige. Heute muss ich Ihnen Dinge erklären, die ich gar nicht mehr verteidigen will. Die Nachkriegsgesellschaft hatten wir damals als postfaschistische definiert und auch erfahren. Das wird heute immer so abgetan, doch der größte Teil der Nazi-Elite war wieder in hohen Ämtern. Wir haben uns als nachholende Résistance verstanden. Damals glaubten wir, zu jeder Konsequenz berechtigt zu sein, wenn sie den Befreiungsprozess vorantreibt. Heute sage ich, dass wir selber oft illegitim gehandelt haben.

Das kann man so sagen.

Dellwo: Die Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm, wo es vier Tote gegeben hat, zwei von uns und zwei von uns erschossene Geiseln, war eine brutale Reaktion, politisch und moralisch falsch. Auch die, die man als Teil der anderen Seite sieht, also auch als Gegner, haben ihre Rechte. Wir haben sie völlig verdinglicht. Wir hatten das Todesfoto des völlig abgemagerten Holger Meins im Kopf, an dem für uns auch die Vorgeschichte der BRD wieder hochkam. Ich möchte nichts davon rechtfertigen, wogegen ich mich nur wehre, ist, dass es immer nur um die Frage der Reue geht und dass der Kontext, in dem wir bewaffnet gekämpft haben, negiert wird.

Moldenhauer: Aber die Frage nach der Reue ist berechtigt, gerade bei den Geiseln, die ruhig und überlegt erschossen wurden.

Dellwo: Ja, aber es gibt auch verschiedene Ebenen. Auch haben wir 20 Jahre dafür im Gefängnis gesessen. Umgekehrt gab es das nicht: Karl-Heinz Kurras ist befördert worden nach dem Schuss auf Benno Ohnesorg. Es gibt eine individuelle Schuld auch bei uns, und es gibt eine weltweite Realität. Natürlich waren die Personen, die wir angegriffen haben, auch Familienväter, aber sie hatten eben auch eine offizielle Rolle, und wir haben sie in dieser Rolle attackiert. Ich hatte immer die Gräuel der Nazis im Kopf gehabt – und die Verantwortlichen waren wieder in ihren Machtpositionen. Wir sahen auch die Gräuel in Vietnam, man sah Franz Josef Strauß gemütlich bei den weißen Herrenmenschen in Südafrika, man sah Bilder, wie diese ihre Hunde auf Schwarze hetzten, um die Tiere zu trainieren. Ich hatte den bewaffneten Kampf als Möglichkeit gesehen, endlich von dieser damaligen Gesellschaft radikal distanziert zu sein. Damit war ich in meiner Generation gewiss nicht alleine. Wir standen aber nicht nur gegen den Staat und seine Eliten, sondern gegen die Mehrheit der Bevölkerung. Denn die Mehrheit hat den Mantel des Schweigens ür die Vergangenheit gelegt und fand die Ausbeutung in der Welt gut.

Moldenhauer: Wir stehen im Gegensatz zu den 68ern heute mit den Werten, die wir vertreten, nicht gegen die Mehrheit der Menschen in diesem Land. Das heißt natürlich nicht, dass die Mehrheit unsere politischen Vorstellungen teilt, aber wir wollen überzeugen. Wir glauben daran, dass wir Veränderungen letztlich nur über die Köpfe der Menschen erreichen können. Von der moralischen Legitimität mal ganz abgesehen: Wer ernsthaft die militärische Frage stellt, den Weg der Gewalt geht, hat schon verloren.

Dellwo: Aber es gibt Dinge, die kann ich auch im Nachhinein noch verteidigen, etwa die Angriffe auf die US-Armee während des Vietnam-Krieges. Sie haben diesen Krieg auch vom Boden der BRD aus geführt, und ich fand ihn ungerecht. Sollte ich da zuschauen? Ich habe ja lange legale Politik gemacht, habe in Komitees mitgearbeitet, ich war anerkannter Kriegsdienstverweigerer. Wir haben ein Haus besetzt, dafür saß ich mit 21 ein Jahr im Gefängnis, davon elf Monate in Einzelhaft. In meinem Dorf im Schwarzwald sind Sie gehasst worden, wenn Sie ihr Haar bis zum Kragen hatten. Und das Angebot dieses Systems war: Werde Teil unserer Konsumentenkultur! Dagegen war nur Abgrenzung möglich. Ich will damit nichts rechtfertigen, ich will Ihnen nur die politische Atmosphäre damals erklären.

Moldenhauer: Ein wichtiger Unterschied zwischen den Generationen ist: Sie sind gegen Betonmauern gerannt. Sie hatten auch klare Feindbilder. Wir rennen gegen Gummiwände. Wenn Attac Vorschläge zur Armutsbekämpfung macht, äußert der Bundespräsident sein Verständnis. Zwar beschimpft mich niemand als Ratte oder Schmeißfliege, aber verändert hat sich bisher auch wenig.

Dellwo: Die Gesellschaft ist vielschichtiger geworden. Wir hatten eine Gegenkraft, aber sie war nicht ausreichend und ist integriert worden. Das Kapital hat dazugelernt. Es ist unwichtig, wie jemand aussieht, welchen Lebensstil er will. Es wird nur gefragt: Stellst du unsere ökonomische Logik in Frage? Nein? Dann kannst du machen, was du willst.

Moldenhauer: Stimmt. Heute ist es ja so: Schwule und Lesben sind teilweise hipp geworden. Sie sind eine zahlungskräftige Gruppe, in der Werbung wird mit ihnen gearbeitet, und deshalb sind sie voll integrierbar. So positiv das ist, zeigt es doch, dass das Anders-sein als solches die Machtverhältnisse noch keineswegs infrage stellt.

Herr Moldenhauer, Sie waren Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes und könnten mit ihrem hervorragenden Abschluss jederzeit einen Superjob bekommen. Aber sie arbeiten lieber für wenig Geld bei Attac.

Moldenhauer: Ich habe keine hohen materiellen Ansprüche. Was mich treibt, ist der Gedanke, dass es mehr Gerechtigkeit und weniger Elend auf der Welt geben muss. Ich habe als Physiker vier Jahre im Bereich globaler Umweltveränderungen geforscht. Gerade der Klimawandel ist ein gravierendes Problem, wegen dem letztlich viele Menschen ertrinken und verhungern werden, aber mir hat es irgendwann nicht mehr gereicht, das in obskuren Fachzeitschriften zu diskutieren und mit mathematischen Modellen zu belegen. Viel mehr Menschen verhungern natürlich aufgrund des Wirtschaftssystems. Und dagegen muss man etwas tun.

Dellwo: Wir haben damals einen Zusammenhang zwischen der Dritten Welt und unserer eigenen Unterdrückung gesehen. Wir haben uns nicht nur mit den Befreiungsbewegungen in Mosambik oder Lateinamerika solidarisiert, sondern auch Hoffnung daraus gezogen. Die waren modern und militant, daraus entstand unser Konzept Stadtguerilla. Wir hatten das Gefühl, Teil einer globalen antiimperialistischen Befreiungsbewegung zu sein. Aber wenn man sich einige der Gruppen dann genauer ansah, wurde einem schon klar, dass man mit deren Nationalismus lieber nichts zu tun haben wollte.

Moldenhauer: Ich denke, dass wir heute viel internationaler sind. In unserer Generation ist es ja fast schon üblich, im Ausland zu studieren. Attac trifft sich nicht nur in Berlin oder Köln, sondern organisiert internationale Demonstrationen. Das Weltsozialforum in Porto Allegre, wo sich Zehntausende Globalisierungskritiker trafen, war für uns enorm wichtig. Da stellt man dann fast erstaunt fest, wie sehr sich die Analysen und Forderungen über die Kontinente hinweg ähneln.

Aber verbirgt sich dahinter nicht einfach ein globaler Humanismus, so eine Art Kirchentags-Gerechtigkeit?

Moldenhauer: Mit globalem Humanismus kann ich durchaus viel anfangen, aber bei uns geht es weiter, bis zur Ablehnung des neoliberalen Entwicklungsmodells und dessen, was innerhalb der WTO oder auf Druck der Weltbank und des IWF angerichtet wird. Wir haben keinen kompletten Gegenentwurf, aber das ist gut so, denn die Gesellschaft verändert sich evolutionär. Mit der Chaostheorie hat sich auch das Paradigma des Denkens verändert, man kann nicht alles vorausberechnen, die Welt ist kein Uhrwerk. Wir können nicht auf ein Blatt Papier schreiben, wie die Welt werden soll. Das ist die Lehre, die seit 68 gezogen wurde: Wir tun weniger so, als wüssten wir genau Bescheid. Uns geht es darum, dass 800 Millionen Menschen auf der Welt hungern und fordern Schritte dagegen, die in den nächsten fünf bis zehn Jahren umsetzbar sind.

Dellwo: Welche sind das?

Moldenhauer: Bekannt geworden ist die Tobin-Steuer, etwas anders ist der Erhalt der sozialen Sicherungssysteme und der Umbau ihrer Finanzierung dahin, dass sie nicht nur aus Arbeitslöhnen, sondern auch aus Einkommen aus Kapital und Unternehmertätigkeit finanziert werden. International stehen Schuldenstreichung für Entwicklungsländer und der Stopp des weiteren Machtzuwachses der WTO ganz oben auf der Agenda. Langfristig gibt es für mich persönlich zwei Kernforderungen: Erstens der Aufbau globaler Umverteilungs- und Regulationsmechanismen, wie sie teilweise innerhalb der Industriestaaten mit Tarifverträgen, Sozialstandards und Länderfinanzausgleich noch existieren und zweitens, grundlegender, die Eigentumsfrage: Privatvermögen dürfen nicht weiter so ungleich verteilt sein, wie heutzutage. Gerade die zunehmende Bedeutung des Erbens betont wieder das Geburtsrecht, hat geradezu Tendenzen zur Refeudalisierung der Gesellschaft.

Dellwo: Ich denke, wir hatten damals eine Zentralperspektive. Wir hatten die eindeutige Vorstellung: Wir müssen das politische System angreifen und stürzen. Das ist bei Attac und den ganzen anderen Bewegungen heute nicht mehr so.

Moldenhauer: Und der überwiegende Teil der Leute, die damals protestierten, sind jetzt wunderbar in die Gesellschaft integriert.

Dellwo: Das ist auch eine Folge des Scheiterns der RAF. Bis 1975 haben die meisten Gruppen an dem Ziel, wir wollen den Umsturz, festgehalten. Ob das nun die K-Gruppen waren oder Leute wie Joschka Fischer. Und 1977, in der Hochphase der Auseinandersetzung zwischen RAF und Staat, haben dann ganz viele Leute gesagt, das ist nicht mehr mein Ding, das ist mir zu hart. Da stand man dann am Ende dieser aus 68 entstandenen militanten Bewegung. Nicht von ungefähr begann dann die Geschichte der Grünen, die jetzt einen Teil der politischen Klasse der BRD ausmachen.

Sind Sie wählen gegangen?

Dellwo: Ich habe noch nie gewählt. Und ich sehe auf lange Sicht auch keinen Unterschied, ob Stoiber oder Schröder dran ist.

Moldenhauer: Ich bin immer wählen gegangen und glaube im Grundsatz auch daran, dass in vielen Situationen durch Wahlen etwas verändert werden kann. Aber wir sind an einem Punkt angelangt, wo ganz zentrale Fragen derzeit nicht mehr im Parlament behandelt werden. Die Frage nach ökonomischen Macht- und Verteilungsfragen wird nicht mehr gestellt. Globalisierung wird als naturgegeben akzeptiert. Ich war selbst jahrelang bei den Grünen, bin aber vor ein paar Monaten ausgetreten. Mit meiner Beteiligung an der Mobilisierung für Genua habe ich das Gefühl, deutlich mehr bewegt zu haben als in zehn Jahren auf Grünen-Parteitagen. Man konnte noch so viele Anträge auf Programmänderungen stellen, der Druck von außen hat viel mehr bewirkt. Das kommt daher, dass wir in Genua die Öffentlichkeit erreicht haben.

Dellwo: Aber will Attac nicht irgendwann auch eine Partei werden – oder was wird eure Konsequenz?

Moldenhauer: Diese Frage kommt immer nur von außen. Der Unterschied zu 68 ist, dass viele Leute bei uns Parteierfahrung haben und da sehr desillusioniert sind. Wenn wir stark genug sind, werden die Grünen, die SPD oder die PDS gezwungen sein, die entsprechende Politik zu machen und ihr Personal auszutauschen. Mit dem G8-Gipfel nächstes Jahr im Juni in Frankreich werden wir Genua noch toppen, da werden Hunderttausende auf der Straße sein. Mit Massenaktionen greifen wir in die Debatte um soziale Sicherungssysteme und die WTO-Verhandlungen direkt ein. Da ist die globalisierungskritische Bewegung ein wichtiger Player.

Dellwo: Ich glaube nicht, dass Ihr so einen großen Einfluss habt. 500000 waren auch während der Friedensbewegung auf der Straße, aber das ist noch nicht die Masse. Helmut Kohl hat sinngemäß dazu gesagt: Die demonstrieren, und wir regieren. Außerdem haben die Menschen die ökonomische Rationalität dieser Gesellschaft verinnerlicht, weil sie nichts anderes kennen. Wenn ganze Belegschaften gekündigt werden, weil die Firmenleitung sagt, in Südkorea produzieren sie billiger, haben die Arbeiter die Faust in der Tasche, sie sehen wie ihre Zukunft zerstört wird. Aber im Kopf sagen sie sich: Da kann man nichts machen. Und solange diese Logik als naturgegeben betrachtet wird, steht man in Konfrontation zur Mehrheit, wenn man daran etwas ändern will. Ihr drückt euch vor dem Problem. Wenn die Demonstrationen zu Ende sind, geht es um die Frage: Wie organisiert man die Gegenkraft?

Moldenhauer: Das ist mir zu pessimistisch. Die 68er und die Umweltbewegung waren auch in vielem erfolgreich. In Deutschland werden keine Atomkraftwerke mehr gebaut, Schwulsein ist akzeptiert – das sind doch Erfolge aus dieser Bewegung. Was sich allerdings nie geändert hat, ist die Machtfrage. Wenn es um den extrem ungleich verteilten Besitz in Deutschland geht, dann wird es wirklich schwer, das wissen wir.

Dellwo: Ich würde das sogar noch etwas schärfer formulieren: Mein Vertrauen in die Gewaltlosigkeit derjenigen, die viel zu verlieren und viel zu verteidigen haben, ist überhaupt nicht groß .

Das Gespräch führten Norbert Thomma und Annabel Wahba .

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