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Kultur: Die Freiheit des Zuhälters

Sue konnte Charles Mingus nicht zähmen. Jetzt setzt sie das Werk des Bandleaders fort

Es klingt wie eine seiner letzten multiplen Kompositionen, „Me, Myself and Eye“. Er sei der Mann, der Alte, der kleine Junge, alles in einer Person. „Mit anderen Worten: Ich bin drei“, heißt es in seinem als Autobiografie gekennzeichneten und gerade in deutscher Übersetzung wiederveröffentlichten Buch „Beneath the Underdog“ (Edition Nautilus, Hamburg 2003, 318 Seiten, 16,90 Euro). Als es 1971 erschien, sollte es eigentlich Tausend Seiten stark und wie eine Bibel mit Goldrand verziert und in Leder gebunden erscheinen. Allein die Editionsgeschichte bietet Stoff für einen Sozialkrimi über die amerikanischen Verhältnisse der Sechzigerjahre.

Charles Mingus, der begnadete Bassist und Erzähler, hatte keinen Lebensbericht, auch keinen Jazzroman geschrieben. Sein Buch liest sich wie die literarische Selbsttherapie eines Künstlers, dessen Hautfarbe nicht schwarz genug ist, um ein richtiger Nigger zu sein, und nicht weiß genug, um zur Elite zu gehören. Sätze wie, „ein guter Jazzmusiker muss einfach Zuhälter werden, wenn er frei sein und seine Seele retten will“, fliegen durch dieses Buch wie wilde Noten, jede Seite eine Nutte, eine Möse, sein Schwanz. Nichts wird ausgelassen, und immer noch könnte seine Schilderung einer Nacht mit 23 mexikanischen Huren für kulturelles Unbehagen sorgen, wenn nicht hinter all dem Geprotze die Frage durchschimmern würde: Wie potent muss ein Schwarzer sein, um den Weißen Angst zu machen?

Aber Mingus will nicht den Weißen gefallken, die Anerkennung innerhalb der schwarzen Community ist sein Ziel. Es ist die Zeit von Bob Dylans „Don’t look back“ und Eldridge Cleavers „Seele auf Eis“, Civil Rights, Black Panther und sexueller Revolution. Doch hat der Überbietungsgestus heute nur noch historischen Wert und ist ein amüsantes Dokument der Zerfleischung. „Der Grund für den Hass auf andere, ist der Hass gegen sich selbst“, zitiert der Musiker seinen weißen Freund und „Village Voice“-Kolumnisten Nat Hentoff. Das alles in Großbuchstaben, nicht verbürgt, aber ausgestellt als schmerzhafte Selbsterkenntnis.

Wie es wirklich um das seelische Gleichgewicht des großen Komponisten und Bandleaders bestellt war, der am 5. Januar 1979 mit 56 Jahren starb, erfährt man in dem Buch seiner Witwe Sue Graham Mingus, „Tonight at Noon. Eine Liebesgeschichte“, das gerade in deutscher Übersetzung erschienen ist (Edition Nautilus, Hamburg 2003, 285 Seiten, 22 Euro). Eigentlich als Bericht über das Sterben des ALS-Kranken Künstlers konzipiert, entpuppt es sich auch als intime Recherche über das Amerikabild des Protagonisten, als Korrektiv und Pendant zu „Beneath the Underdog“. Geschildert werden die Versuche einer mexikanischen Wunderheilerin, dem schwerkranken, an den Rollstuhl gefesselten Mingus, Linderung zu verschaffen. Als er mit Sue in den mexikanischen Puff zurückkehrt, wo er einst den Superfick erlebt haben will, wandelt er sich zum eifersüchtigen Spießer- Macho, der nicht erträgt, dass seine Frau Gefallen an den Ausschweifungen findet.

Auch aus der Perspektive der Journalistin und Verlegerin Sue Mingus, die heute das künstlerische Werk ihres Mannes weiterführt, war für Charles Mingus Hass und Selbsthass ein zentrales Thema. „Weißt du, die Weißen respektieren unsere Musik nicht“, lässt sie ihren Mann sagen, „weil sie wissen, woher sie kommt. Nicht von Schwarzen, sondern von dem, was Schwarzen angetan wurde, und von dem Schmerz, den sie erleiden mussten.“

Als Miles Davis Mai 1959 große Mingus-Klassiker wie „Goodbye Pork Pie Hat“ und „Fables Of Faubus“ aufnahm, beklagte er sich, dass es ihm nicht gelungen sei, das überwältigende und prägende Gefühl wieder einzufangen, das er als Kind gehabt hatte, als er die „wahnsinnigen Gospelsongs aus der Kirche“ hörte. Charles Mingus schaffte kurz darauf genau das, mit „Better Get It In Your Soul“. Wahnsinn und Spiritualität, keine durchdrang diese Verbindung wie Mingus.

Sue Mingus liest heute aus „Tonight at Noon“ im Tränenpalast (15 Uhr). Danach spielt die Mingus Big Band.

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