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Kultur: Die Freiheit schenk’ ich dir

Vor dem Bush-Besuch: Anti-Amerikanismus gibt es nicht – nur die Selbstkritik des Westens

Am Rhein herrscht Ausnahmezustand. In der nächsten Woche besucht Präsident Bush die Bundesrepublik, und das Damenprogramm führt die First Lady Laura in das Mainzer Gutenberg-Museum – an einen auratischen Ort von Kultur und Schrift. Die Debatte um das Verhältnis von Alter und Neuer Welt geht in die nächste Runde. Nach Bushs Wiederwahl hatten sich die Wogen bei uns notgedrungen etwas geglättet.

Wenn sich eine deutsche, eine europäische Position in der transatlantischen Frage nun allmählich herauskristallisiert, sollten verdeckt mitgeführte alteuropäische Ressentiments beiseite gelassen werden. Der Begriff „Anti-Amerikanismus“, mit dem allzu oft Kritik an der politischen und kulturellen Entwicklung der USA disqualifiziert wird, trifft allenfalls auf den extremistischen Revisionismus von rechts und links zu. Jede rationale Amerika-Kritik versteht sich viel besser als interne Selbstkritik des Westens. Die Prämisse, dass europäische Kritik an den USA im Grunde Selbstreflexion des Westens ist, differenziert den Blick auf eine mögliche Identität oder Divergenz der westlichen Welt. Die ironische Bemerkung vor der Wahl, Nicht-US-Bürger sollten doch den US-Präsidenten mitbestimmen dürfen, da sie die US-Politik immer direkter betreffe, wirkt da gar nicht so abstrus, wie sie zunächst scheint.

Die kardinale Frage ist nach wie vor, wie der Westen globalpolitisch auftreten soll: als Kolonisator und Hegemon, oder aber, falls das überhaupt möglich ist, als nicht-aggressiver Werber für die westlichen Werte und den westlichen way of life. Und als legalistischer Weltpolizist gegen diktatorische Exzesse. Für Europa bedeutet das, ob es in der „Allianz der Willigen“ an der Seite der USA einer Bush-Doktrin folgen soll, die militärisch-interventionalistisch und „preemptiv“ vorgeht, oder ob man sich zu einer Art alternativem Westen entwickelt, der post-heroisch und post-bellizistisch, liberal und republikanisch, also auf Verfassungen gegründete Politik macht. Nebenbei: Mit der Vermittlung westlicher Werte wie Demokratie und Freiheit gibt es auch schon innerhalb Deutschlands Schwierigkeiten; rechte Minderheiten lehnen sie ab und bekämpfen sie.

Über einen Aspekt ist in der Debatte über Europa und Amerika noch überhaupt nicht geredet worden. Es ist das Phänomen, dass die USA (und damit auch Europa) seit geraumer Zeit dabei sind, sich von einer Schriftkultur zu einer mythischen Kultur zu entwickeln. Das ist von eminenter Bedeutung, wenn man bedenkt, dass in der islamischen Welt die schriftkulturellen Aspekte die Gesellschaft in weit stärkerem Maße bestimmen als in den USA und partiell bereits in Europa.

Die deutsche Antiamerikanismus-Debatte ist so heikel, weil sich hier die Konstellation von 1968 wiederholt. Auf der einen Seite inszenierten die ’68er in einer Art landesweiten Gruppentherapie den versäumten Widerstand gegen den Nazi-Staat – nur dreißig Jahre zu spät – und überinterpretierten die junge Bundesrepublik als „autoritären“, quasi-totalitären Staat. Aber anderseits bewirkten die Achtundsechziger eine kollektive Bewusstseinsveränderung. Man zwang die älteren Generationen zu einer Konfrontationstherapie in Sachen Aufarbeitung der Nazizeit und spielte dabei den bunten, lässigen, amerikanisch-liberalen Lebensstil und seine Selbsverwirklichungs-Dynamik gegen die grau- oder braunmäusige Obrigkeitsgläubigkeit aus. Eine Politik aus nationalen und kolonialen Motivationen sah man mit dem „Dritten Reich“ als ein für alle Mal gescheitert an. Gleichzeitig schaute man der US-Avantgarde das Prinzip der größtmöglichen hedonistischen Fitness ab. Es ist an der Zeit, sich vom lähmenden Sprachspiel des Anti-Amerikanismus zu verabschieden. Wenn wir die USA kritisieren, befragt der Westen sich selbst.

Westliche Hegemonie oder völkerrechtliche, globale Gewaltenteilung auf der Basis der Bill of Rights, der Menschenrechte und der Kantschen Friedenslehre: Für die europäische Liberalität scheint das im großen und ganzen entschieden. Nicht aber für die gegenwärtige US-Regierung. In dieser Differenz liegt der aktuelle transatlantische Konflikt, den man nicht kleinreden kann. Unheimlich ist dabei, wie sich in Kommentaren der konservativen, auch europäischen Intellektuellen Reaktivierungen von gewissen politischen Kampf-Theorien abzeichnen, die auf heroischen Freund-Feind-Unterscheidungen und translegalen Ausnahmezuständen beruhen.

Die Wandlung der USA von der Schriftkultur zur mythischen, hypermedialen Kultur lässt sich gut an den zentralen amerikanischen Mythen zeigen, die sich in der US-Film- und Fernsehproduktion formieren. Die mächtigsten amerikanischen Mythen sind der Westerner-, der Gerichts- und der Self-made-man-Mythos. Der US-amerikanische Großmeister des literarischen Cyber-Punk, Neal Stephenson, hat den mythischen Globalisierungseffekt beschrieben: Synchronfassungen von US-Filmen und -Serien „erweisen den Menschenrechten auf lange Sicht vielleicht einen größeren Dienst als die Unabhängigkeitserklärung“.

So weit die positiven Folgen. Um die negativen Implikationen der neo-mythischen Kultur-Schemata zu beschreiben, lohnt sich ein Blick auf die Struktur des Westerner-Mythos: Dieser erzählt in immer neuen Abwandlungen und Differenzierungen von der heroischen Besetzung des rechtsfreien Raums. Der Westernheld löst einen Konflikt auf die brutale, aber gerechte Art, um schließlich dem (dramaturgisch weniger aufregenden) Gesetz Platz zu machen. Das Problem dabei ist, dass der Rückbezug auf das zu erfüllende Gesetz aus dem Blick geraten kann. Im Pathos von Gerechtigkeit und Freiheit kommt deren notwendige Grundlage, die Gesetzlichkeit, bisweilen ein entscheidendes Stückchen zu kurz – um es vorsichtig zu formulieren. Deutlicher sprach die „Süddeutsche Zeitung“ jüngst im Zusammenhang der Einschränkung der Bürgerrechte und den Folterungen auf externen Territorien von der „Bankrotterklärung eines Rechtsstaats“.

Der Islam und das Judentum sind dem Gesetzesdenken kulturell näher, weil ihre zentralen Texte als gesetzlich aufgefasst werden. Hier entsteht der brandgefährliche Fundamentalismus durch extreme Auslegung der heiligen Gesetze. Anders als im Christentum: In seinem paulinischen Kern ist es eine Theologie des Ausnahmezustands. Hier entspringt Fundamentalismus dem vermeintlichen Geist der christlichen Freiheit. Man sollte sich von Zeit zu Zeit bewusst machen, dass der kulturgeschichtliche Hintergrund des christlich dominierten Westens die paulinische Denkfigur vom „aufgehobenen Gesetz“ und der „Gnade“ ist. Für das christliche Seelenheil ist die Befolgung des Gesetzes sekundär: lieber einen großen, aber reuigen Sünder, als eine laue Seele, die sich an den Buchstaben des Gesetzes hält.

Im evangelikalen Protestantismus amerikanischer Prägung verschärft sich das. Aus Bushs Predigten kann man ein Echo der dunkleren Seiten des Westernmythos heraushören: die Beschwörung des Gewaltakts vor der Einsetzung des Gesetzes. Eine moderne Gesellschaft sollte rechtsfreie Räume jedoch zivilisierter gesetzlich strukturieren, als durch eine Doktrin des „preemptive strike“.

Wenn die First Lady und vielleicht auch ihr Gatte am Mittwoch das Mainzer Gutenberg-Museum besuchen, dann werden sie nicht nur die ersten Bibeldrucke bewundern können, sondern auch etwas vom universellen europäischen Renaissance-Geist spüren, von der Neubewertung der Antike und der Weisheit des Islams und anderer Kulturen. Etwas vom Geist aus jener Epoche, da im 15. Jahrhundert die Schrift beweglich wurde und die katholische Kirche an einer Verständigungstheologie mit Judentum und Islam arbeitete. Die Reformation eröffnete neue Kriegsschauplätze.

Der Westen verliert an Attraktivität als globale Leitkultur, wenn er Gesetze aussetzt, um Freiheit zu schaffen. Wenn der Westen dekadent ist, wie der islamische Extremismus behauptet, dann ist er es weniger in seiner kulturellen Freizügigkeit, sondern in seiner wachsenden Respektlosigkeit vor gesetzlichen Zusammenhängen und seinem wirtschaftlich-ökologischen Egoismus. Die ältere kritische Theorie um Theodor W. Adorno, der im sicheren kalifornischen Exil einen produktiven Kulturschock erlitt und über Mythos und Aufklärung nachdachte, setzte allzu leichtfertig mythische Kultur und „Barbarei“ in eins. Seltsam, wie Adorno, von den Nazis vertrieben, selbst antiamerikanische Reflexe entwickelte. Sein Einfluss reicht über die Achtundsechziger bis in die heutige Zeit. Mythen kann man aber nicht verdammen und verbieten. Mythen können nützlich sein, wenn man sie richtig interpretiert. Man könnte das als das unvollendete Projekt der Postmoderne bezeichnen.

Am Ende der alteuropäischen Orestie entsteht aus der blutigen, mythischen Finsternis schließlich das apollinische Gesetz; eine Urform des Westerns. Seine zeitgemäße Version (aus dem Geist des „anderen Amerika“) wäre die US-Serie „Star Trek“ – „Raumschiff Enterprise“: Die Föderation aus Hominiden, Vulkaniern und Romulanern ist nicht anderes als die UN mit Whorp-Antrieb.

Marius Meller

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