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Kultur: Die freudlose Bohème

Wiederentdeckt: Francis Carcos Roman „Jesus Schnepfe“

Kein Ort spiegelt den Sturm der Avantgarde vor dem Ersten Weltkrieg so gut wie der Pariser Montmartre. In Scharen strömten später die betuchten Touristen der Zwanzigerjahre in das Viertel. Da aber hatte es sich längst in ein Abziehbild seiner selbst verwandelt. Sie konnten stolz sein, wenn es ihnen gelang, Francis Carco als privaten Stadtführer zu gewinnen, galt er doch als der Bohèmien, der das Quartier am besten kannte. Auflagenstarke Romane hatten den 1886 in der Strafkolonie Neukaledonien geborenen Lyriker, Chansonnier und Erzähler, der ab 1910 auf dem „Berg der Märtyrer“ lebte, als Chronisten der Gauner-, Stricher- und Prostituiertenszene berühmt gemacht. „JésuslaCaille“ heißt der Roman, der 1914 in der Zeitschrift „Mercure de France“ veröffentlicht wurde und Carcos herben Ruf begründete. Der Heidelberger Wunderhorn-Verlag hat dieses verschollene Glanzstück der französischen Literatur nun geborgen.

„Jesus Schnepfe“, so der Titel der von Hans Thill souverän übersetzten ersten deutschen Ausgabe seit rund 80 Jahren, folgt der erweiterten Fassung von 1920. „Jesus“ heißt im Jargon der Bohème ein Junge, der seine Homosexualität offen lebt und sich prostituiert. Eine „Schnepfe“ ist ein Charmeur, der sich von einer Prostituierten lieben und aushalten lässt. In der Welt der „Apachen“ hat sich der Minderjährige an der Seite des gleichaltrigen Strichers Bambus niedergelassen; im Traumreich einer jugendlichen Protestgeneration, die bürgerlichen Gesellschaft den blanken Arsch entgegenstrecken will.

Zwei Jahre lang erlebt Jesus Schnepfe das undurchschaubare Spiel, mit dem die Zuhälter und Gauner ihre Reviere abstecken. Noch bevor die eigentliche Handlung des Buchs beginnt, wird Bambus verhaftet. Jesus Schnepfe gerät mit Pépé Dogge aneinander, einem skrupellosen Verräter, der vor Mord an den Prostituierten der Konkurrenz nicht zurückschreckt. Er sucht Ruhe bei Fernande, der Geliebten eines Zuhälters, der wegen Einbruchs einsitzt. Er ekelt sich vor seiner Homosexualität und tut sich dann doch wieder mit einem Jungen zusammen, der sich denselben Männern anbietet wie einst er selbst.

Jesus Schnepfe selbst scheint die Kamera bei sich zu tragen, die Carco das Rohmaterial für den Roman lieferte. Der Autor selbst hat die Aufnahmen nur noch dramaturgisch zusammenschneiden müssen. Carcos Komposition schafft ein knisterndes Spannungsverhältnis aus Verklärung und Aufklärung. Sie feiert die Selbststilisierung der ersten Punks des 20. Jahrhunderts und weist zugleich darauf hin, dass die Kinder der Bohème Selbstmord auf Raten betrieben. Es schmerzt, dass dieser Roman, der wie kaum ein anderer die Mechanismen vorführt, auf denen alle spätere, auf Destruktion angelegte Protestkultur basiert, nicht schon vor 10 Jahren entdeckt wurde – als weitsichtiger Kommentar zum letzten Aufbegehren der PostPunks.

Francis Carco: Jesus Schnepfe. Aus dem Franz. und mit einem Nachwort von Hans Thill. Heidelberg, Verlag Das Wunderhorn 2002. 212 S., 21,80 €.

Martin Droschke

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