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Kultur: Die Galerie zum Selbermachen

Kunst sucht Obdach: Wie sich die Off-Szene billige und kuriose Ausstellungsflächen in der Stadt erobert

Julie August kann nicht still sitzen bleiben. Immer wieder springt sie mitten im Gespräch auf. Läuft zum Bücherregal. Zieht einen Katalog hervor oder kramt ein paar selbst entworfene Faltblättchen aus Kisten. Die 36-jährige Berlinerin präsentiert gerne Dinge und Bilder, die sie mag, breitet sie auf dem Tisch aus wie Beweismaterial.

Julie August hat aus diesem Tic, der auch eine Gabe ist, ein Hobby gemacht: Mehrmals im Jahr zeigt sie in ihrer Schöneberger Wohnung Kunst. Beim Kochen blickt sie auf Bilder, die an der Küchenwand hängen. Wenn sie in den Räumen das Parkett wischt, dann um Skulpturen und Installationen herum. Über hundert Besucher empfängt sie zu den Eröffnungen der Gruppen- und Einzelausstellungen. Sie verausgabt sich nicht allein finanziell für diese Leidenschaft: Da sie in einem Verlag als Layouterin arbeitet und allein erziehend für ihre Tochter sorgt, bleibt nur die Nacht für die Galeriearbeit. Ihre vorherige Wohnung musste die Frau mit dem klangvollen Namen räumen, weil der Vermieter sich gestört fühlte. Zu viele Besucher. Ihr neues Domizil hat die Nebenbei-Galeristin, die in Leipzig Kunst studierte, danach ausgesucht, ob es sich als Ausstellungsort eignet. Die 18m-Galerie, wie Julie August ihre Off-Räume nach der Länge ihres alten Flurs benannt hat, ist längst mehr als eine Freizeitbeschäftigung. „Aus Versehen professionalisiert sich die Angelegenheit“, sagt sie. Und ergänzt: „Weil es anders nicht hinzukriegen ist.“ Doch wenn die Kuratorin das Ergebnis ihrer Arbeit sieht, wenn Künstler durch ihre Ausstellungen für neue Projekte zusammenkommen, wenn Gäste sich bis spät in die Nacht in Gespräche vertiefen, ist Julie August mit dem ganzen Stress versöhnt: „Ich bin einfach stolz, wenn ich die Patentante sein kann.“

In Berlin, der Stadt, die europaweit die meisten kommerziellen Galerien besitzt, gibt es zahlreiche solcher Off-Spaces, Projekträume, informelle Netzwerke und Kunst-Fördervereine mit angeschlossenen Ausstellungsflächen. Sie heißen „Meinblau“, „Brix“, „Zur Moebelfabrik“ oder „Wand Boden Decke“ und werden von Künstler- oder Kuratorenkollektiven und von engagierten Einzelkämpfern wie Julie August am Leben gehalten. Wie viele solcher Kunststätten über die Stadt verstreut existieren, kann niemand sagen, da sie auftauchen und verschwinden und es keine Interessenvertretung gibt, die den Überblick behält.

Doch werden es etwa 30 Ausstellungen sein, die man in Wohnungen, gefakten Autowerkstätten, ehemaligen Tankstellen, in selbst gebauten Pavillons, in Fabriketagen und Läden jederzeit besichtigen kann. Ungewöhnliche Orte setzen die Kunst in neue, spannungsreiche Kontexte, die den White Cubes der Galerien oft fehlen. Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds, durch Sponsoring oder ganz ohne finanzielle Unterstützung toben sich Künstler aus, ohne von institutionellen Ansprüchen und Forderungen des ebenso fragilen wie autoritären Kunstmarktes behelligt zu werden, ohne für einen Kanon und die Kunstgeschichte produzieren zu müssen. Hier kann der Besucher Kunst entdecken, die nie in Galerien, auf Messen oder in Museen gelangt, weil sie sich deren Strukturen widersetzt. Und hier präsentiert sich auch junge Kunst, bevor sie von den Institutionen und dem boomenden Markt verschlungen wird. Doch bleibt auch immer die Frage: Kann es so viel gute Kunst geben, wie in Berlin ausgestellt wird?

„Eher nicht“, meint der Künstler Thomas Kilpper. „Was davon gut ist, wird erst die Zeit zeigen.“ Kilpper hat ein Atelier gesucht und dabei ein Haus in Lichtenberg gefunden, das er gekauft hat. Extrem günstig sei das gewesen. In dieser ehemaligen Fleischerei mit Wohnetage lebt und arbeitet er und möchte in einem kleinen artist in residence-Programm internationale Künstler beherbergen und ihnen ein Atelier überlassen. In den einstigen Verkaufs- und Verarbeitungsräumen hat der HAP- Grieshaber-Preisträger 2004 den Projektraum „After The Butcher“ eingerichtet. Hier, in einiger Entfernung zum Kunstbetrieb der Innenstadt, will er ohne hohe laufende Kosten fünf bis sechs Mal im Jahr eine Kunst zeigen, weil er sie fördern möchte. Der 1956 geborene Thomas Kilpper, der erst vor kurzem nach langem London-Aufenthalt nach Berlin zog, findet es wichtig, dass Künstler auch in Räumen ausstellen, in denen sie experimentieren können. Und: „Auch wenn wir Künstler nicht optimal ausstatten können, verfüge ich über 15 Jahre Berufserfahrung. Das kann eine Galerie nicht bieten.“

Nicht nur von Künstlerseite gibt es einen Bedarf an solchen Projekträumen: Ausstellungseröffnungen sind selbst bei sommerlicher Hitze und Konkurrenzereignissen wie der Fußball-WM gut besucht. Ob die kleine, dunkle Hinterhofgalerie „Kurt im Hirsch“ im Prenzlauer Berg, wo sich die Besucher auf knarrenden Dielen aneinander vorbeischieben, ob auf dem Campus der Humboldt-Universität in einem ehemaligen Kuhstall, den die freie Kuratorin Christiane Grüß mit ihrem Projekt „7 Hours“ bespielen lässt, oder ob bei der Zwischennutzung einer ausgedienten Kneipe durch Studierende der Museumskunde – immer gibt es viel zu erzählen, zu trinken und nicht zuletzt: zu schauen. Der Erfolg unabhängiger Galerien und Projekträume ist ungebrochen. Auch die diesjährige Berlin-Biennale huldigte den freien Sphären, indem sie Kunst in Wohnungen zeigte und für einen temporären Raum der renommierten New Yorker Gagosian Gallery den Namen klaute.

Und so ergibt sich ein Gentlemen’s Agreement: Nichtkommerzielle Kunststätten dürfen – zwischen Party und Pathos – dort weitermachen, wo der Betrieb, wo Institutionen und Galerien aufhören. Thomas Kilpper will demnächst eine Ausstellung mit der freien Klasse der Universität der Künste veranstalten. Die Studierenden sollen aus dem geschützten Refugium der Hochschule hinausgelangen, ohne dem Markt ausgeliefert zu sein.

Sich selbst ein Gesetz schaffen, sich Regeln auferlegen, ist ein Markenzeichen der Freiheit. So bindet Julie August ihren unabhängigen Galeristentraum an ein strenges Konzept: Alle Ausstellungen haben mit Zahlen zu tun. Vernissagen in ihrer 160-Quadratmeter-Wohnung finden immer am 18. eines Monats statt. Unter diesem Bann lässt August sich in ihrer „Galerie für Zahlenwerte“ ein wechselvolles Programm einfallen. „Es ist das Zusammenleben mit immer neuer Kunst, das ich so aufregend finde“, sagt Julie August. Und für einen Augenblick sitzt sie ganz still.

18m2 Galerie für Zahlenwerte, Akazienstraße 30, Schöneberg, zeigt bis 10. August die Ausstellung „1:0. Kunst – Fußball“; Anmeldungen unter 030 / 88 70 29 04.

After The Butcher befindet sich in der Spittastr. 25, Lichtenberg. Im September findet dort eine Ausstellung mit der freien Klasse der UdK statt.

Daniel Völzke

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