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Kultur: Die Gangs von Rio

Verschwendung des Lebens: Fernando Meirelles’ Film „City of God“ ist ein grandioses Endzeit-Epos

Was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Luxusfrage. Reproduktion ist unwichtig, entscheidend ist, wie man dem Tod von der Schippe springt. Am Anfang ist das Huhn, und es soll geschlachtet werden bei einem Straßenfest mit Musik. Das Huhn, schon ziemlich gerupft, ruckt und guckt, wie die Messer über den Schleifstein ziehen, wie die schon toten Mithühner fürs Sieden fertig gemacht werden – und flieht. Löst das zu lax gefesselte Hühnerbein von der Schnur, flattert aus dem Verschlag hinab in die Gasse, wird von einer johlenden Kindermeute entdeckt und gejagt. Und gejagt. Und gejagt. Es rennt um sein Leben, das sehr nackte, es gibt ja nichts anderes.

Nicht viel mehr als eine rasende Minute dauert diese Eingangsszene von „City of God“, und wer hier nur eine Sekunde wegguckt, hat schon alles verpasst: In etwa doppelt so viele Schnitte, wie sie ein Regisseur wie Aki Kaurismäki gerne auf zwei ganze Filme verteilt, packt Regisseur Fernando Meirelles eine Metapher vom Leben, eine reale Schlachtfestszene, seine wilde, sprunghafte Art zu erzählen auch – und den Zuschauer packt er gleich mit. Wie das Huhn sich unvermutet befreit, wie die Kamera es auf Asphalthöhe verfolgt, wie es sogar, schon fast von einem Auto überfahren, noch einmal seitwärts entwischt, bevor alles zu einem kurzen Stillstand kommt: Das ist atemberaubend. Ja, dieser Spielfilm will den Atem rauben, von Anfang an. „City of God“ will überwältigen – in Bildern, fast zu schnell, um das visuelle Abenteuer auszukosten. Doch besser nicht: Abenteuer sind nur für den einen, den unwiederholbaren Rausch gemacht.

Von den Gangs of Rio de Janeiro erzählt „City of God“ (und Martin Scorseses „Gangs of New York“ wirkt daneben nicht nur im Setting, sondern auch in seiner Erzählweise wie ein Film aus einem anderen Jahrhundert); von fünfzehn Jahren in der Favela „Cidade de Deus“, gegründet für die Armen als Billighaussiedlung, schnell gewuchert, rettungslos verslumt, doch aufgesogen bald von der Stadt. Dreien, die schon früh alles andere als unschuldige Kinder sind, sehen wir beim Heranwachsen zu: Der eine wird Drogenbaron, der andere, sein Freund, stirbt beim Fest seines Ausstiegs, ein dritter entkommt der kriminellen Karriere gerade so, wie das Huhn dem Tod unterm Auto entrinnt. Mit ein bisschen Glück, und es ist ein sehr gefährliches Glück, wird er Fotograf.

Zufallshelden. Der Film verliert sie zeitweise, will sie verlieren. Findet andere. Und findet sie wieder. Es geht nicht wirklich um sie als Individuen (so wie auch Paolo Lins’ Romanvorlage 300 Personen zählt), es geht um den Organismus Slum. Um sein Herz, das im Rhythmus der Schüsse pumpt, mit denen die Drogenbosse ihre Reviere markieren lassen; es geht um sein Riesenmaul, das Menschen ausspeit, Junkie-Monster, brutale Jugendgangs und früh sich rekrutierende, noch brutalere Kinderarmeen.

So kommt es, dass wir dem Aufstieg des grundbösen Dadinho (Leandro Firmino da Hora), erst „Löckchen“, dann „Locke“ genannt, zum Koksboss zusehen, bevor er, der Killer aus Leidenschaft, auf das Lächerlichste und Schlüssigste verreckt; so kommt es, dass Bené (Phelipe Haagensen), der Genießer unter den Killern, dem späteren Fotografen Buscapé (Alexandre Rodigues) das Mädchen wegnehmen darf und dass wir ihm dringend ein Leben auf der erträumten Farm wünschen; so kommt es auch, dass der Film die stille Identifikationsfigur Buscapé, die den Zuschauer immer wieder im Voice-over durch die Vorhölle der Gottesstadt führt, nicht wichtiger findet als alle anderen, „Karotte“ zum Beispiel oder die „Zwerge“ oder auch Mané, den sie in der Favela nur den „Stecher“ nennen. Sie alle taumeln durch ein kurzes schlimmes Leben wie Schmetterlinge im Zeitraffer, im Drogenstrudel schwarz verpuppte Projektile, wie zerschossen aus einem einzigen, sich immer wieder neu ladenden Repetiergewehr.

Ein Endzeit-Epos ist dieser Film, lose chronologisch die späten sechziger Jahre bis zu den frühen Achtzigern umfassend, und doch so montiert aus zahllosen Hin- und Herblenden, Abstechern und Durchstechereien, dass bald alle überlieferte Erzählvernunft abhanden kommt. Ein Film auch furioser Binnenbeschleunigung: Erst für einen frechen Augenblick scheinbar konventionell in Figuren und sorgfältig gebauten Szenen präsentiert, löst er sich mit der Zeit in ein allenfalls durch die Offstimme zusammengehaltenes BilderStaccato auf. Schließlich ein Film kunstvoller Farbdramaturgie: Regiert zunächst ein gleißendes Sonnengelb, finstern sich die Szenerien immer mehr ein, bis nur mehr leblos monochromes Blauschwarz übrig zu bleiben scheint. Nein, in diese Stadt Gottes scheint keine Sonne mehr, über diesen Menschen ist kein Gott und kein Himmel.

Mag sein, dass der erfolgreiche Werbefilmregisseur Meirelles manchmal etwas eitel seine Spielgeräte vorzeigt, Splitscreen und Reißschwenk, beschleunigte und verlangsamte Bilder, Handkamera und rasend kippende Perspektiven – aber was macht es, wenn damit die Dekonstruktion der Lebensperspektiven ihre kongeniale ästhetische Parallele findet? Oder: Wenn zwölf Drehbuchfassungen nicht zur Sprache der für das Projekt verpflichteten Favela-Kids passen, ist es da nicht nachgerade vernünftig, die ganze gesetzte Erzählerei einfach in die Luft zu jagen? So wandeln sich alle Mängel, die das Entstehen dieses Films begleitet haben mögen, wundersam in seine Stärke um – gilt es doch, immer tiefer in ein Chaos vorzudringen, das sich am besten selbst erzählt.

Um die „Verschwendung von Leben“ gehe es in „City of God“, schreibt Koproduzent und Regisseur Walter Salles. Tatsächlich scheint dieses kunstvoll erfundene, aufrüttelnde Dokument, das glaubhaft eher wahr als schön sein will, dem neuen Brasilien und seinen Favelas Leben zurückzugewinnen (vgl. unten stehendes Interview). Fast zu schön, um wahr zu werden.

Ab Donnerstag in Berlin im Cinemaxx Potsdamer Platz, Delphi, Filmtheater Friedrichshain, Kulturbrauerei und Neuen Off

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