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Kultur: Die Gegenwart braucht Gegenwelt

Warum zwei Kunstliebhaber ihr Münchner Domizil in ein Juwel des Berliner Klassizismus verwandeln

Wenn es nur nicht so kalt wäre! Doch die Kühle tut dem Mahagoni und Zedernholz der kostbaren Tische und Stühle gut, den Antikenabgüssen, den Stichen – und der Gesundheit der beiden Gastgeber. „Seitdem wir uns dem Berliner Klassizismus verschrieben haben, waren wir nicht mehr krank“, sagt Falk Weber. Obsession hält offensichtlich fit, denn es sind inzwischen rund acht Jahre, in denen der Stil der preußischen Könige, Prinzen, Grafen, Herzöge und Fürsten um 1800 dem Mediendesigner und seinem Freund Sven Kielgas, der als Marketingchef einer Unternehmensberatung arbeitet, die jährliche Erkältung erspart haben.

Wer ihre Münchner Wohnung in Erwartung winterlich erhitzter Räume nur leicht bekleidet betritt, beginnt zwar zu frösteln, gerät aber gleichzeitig in eine Art Fieber, das die glühende Begeisterung der Gastgeber auslöst. Denn Weber und Kielgas sind nicht einfach Liebhaber von Objekten und Raritäten einer bestimmten Epoche. Sie haben vielmehr den aufgeklärt-intellektuellen Lifestyle im Berlin der Nachrevolutionsjahre zwischen 1790 und 1810 von den Lichtquellen bis hin zum Raumparfüm aus Dokumenten und Aquarellsammlungen von Interieurs der Zeit rekonstruiert. Nun versuchen sie, ihn nachzuleben – ausgerechnet in der katholisch-barocken bayerischen Landeshauptstadt.

Die Wahl des Orts ist berufsbedingt. „Unsere Bekannten nennen unser Zuhause die preußische Gesandtschaft in München“, scherzt Kielgas. Nicht der erste und zweite, doch spätestens der dritte Blick fällt durch die Flucht der Zimmer auf den Adler, das Wappentier des friderizianischen Königreichs. Mit triumphierend ausgebreiteten Flügeln thront der vergoldete Vogel über einem schmalen Himmelbett, die Greiffüße in einen Ring gekrallt, mit dessen Hilfe heller Vorhangvoile in wehenden Volants über die schmale Liegestatt drapiert wurde.

Eng schlummerte man damals, doch das stört die Hausherren nicht. Viel wichtiger ist ihnen, sich in ihrem „blauen Kabinett“, wie sie ihr Schlafzimmer nennen, und in den übrigen Räumen so authentisch wie möglich dem Geist der Ära anzunähern. Dazu gehört zum Beispiel die prägnante Farbenfolge, die Baumeister Karl Friedrich Schinkel – für Weber „ein Genie“ im Gegensatz zum „Nur-Talent“ Leo Klenze – für die Wände empfahl. So erstrahlt die Bibliothek in tiefem Rot, der Salon trägt Cremeweiß, und für das „Antikenzimmer“ war Grün die Farbe à la mode.

Einem ästhetischen Kanon zu folgen, kann aufregend sein, besonders wenn sich herausstellt, dass er immer wieder von exzentrischer Experimentierfreude durchbrochen wurde. „Der Berliner Klassizismus war formenstreng, aber geradezu wolllüstig in der Wahl der Farben, Stoffe und Accessoires“, meint Kielgas, und seine Augen glänzen. Man schätzte Leopardenmuster auf Sitzmöbeln, Öllampen, Lüster und Vasen von Wedgwood ebenso wie vom einheimischen Label KPM und Abgüsse von Originalen griechischer und römischer Plastiken.

Im Antikenzimmer können sich die wertvollen Museumsrepliken entfalten. Muskulöse Marmortorsi von Jünglingen sind als Miniaturskulpturen vor dem Fenster arrangiert, theatralisch illuminieren niederländische Leuchter Heldenfiguren auf niedrigen Sockeln, die der dänische Bildhauer Bertel Thorvaldsen in Stein meißelte. Besonders stolz sind Weber und Kielgas auf einen Potsdamer Mahagoni-Sekretär aus dem Besitz der Königin Luise, „innen mit Zedernholz gegenfurniert, das damals nur auf der Pfaueninsel wuchs“. Aus dem dortigen Landschlösschen stammt auch der runde Tisch in der Bibliothek, auf dem ein „betender Knabe“ die Arme beschwörend in den Himmel reckt.

Die Bibliotheksschränke sind neu, weil Originale aus der Zeit nicht transportierbar waren und in den Kriegswirren fast ausnahmslos zerstört wurden. Auch das Sofa im Salon ist nicht antik, sondern aus Leichtaluminium, entworfen von dem amerikanischen Metallmöbelbauer Warren McArthur. „Das Design ist Bauhausnachfolge“, meint Kielgas und erzählt, dass er den Avantgarde-Stil der frühen Moderne sammelte, bevor die Leidenschaft seines Freundes für die Zeit um 1800 auch ihn packte. Doch wurzelt das Bauhaus nicht ebenfalls im Klassizismus? Hat sich nicht Walter Gropius eingehend mit Schinkel auseinander gesetzt? Eben!

Ästhetik und Ethik

Die beiden Sammler werden nicht müde, die Modernität und Liberalität der Epoche zu loben: „Damals entstand der erste internationale Stil“, erklärt Weber. Die aufgeklärte Elite traf sich in den Salons, man war kosmopolitisch und tolerant. „Die Übereinkunft von Ästhetik und Ethik, Stil und Gesellschaftspolitik ist für mich das spannendste Moment der Ära“, sinniert Kielgas. Keine Flucht aus der tristen Aktualität trieb die Hausherrn in den Klassizismus: „Gegenwart braucht Gegenwelt“, verkündet Kielgas sloganreif, und wie verabredet bimmeln und klingeln und läuten und säuseln fast ein Dutzend Pendeluhren.

Jede ist ein Prachtexemplar: Im Antikenzimmer zum Beispiel gibt es eine Säulenuhr von Kleemeyer, auf deren Spitze ein weiterer Raubvogel hockt, „das Pendant zu einem Adler aus dem Berliner Kunstgewerbemuseum“, wie Weber erzählt. Die Bibliothek schmückt ein so genanntes „Ochsenauge“, ein Modell, das den Chic der Revolutionsjahre widerspiegelt.

Wo finden die Hausherren solche Objekte? Wie alle passionierten Sammler sind sie ständig auf der Suche, durchstreifen Messen, Trödelmärkte und das Internet und verlassen sich darüber hinaus auf spezialisierte Händler wie die Berliner Angelika Wittenborn & Jürgen Czubaszek oder Adelbert Stahlmach, den nach Meinung von Weber „wohl weltweit wichtigsten Experten auf diesem Gebiet“. Wer privat die eigene Idealwelt inszeniert, der will seine Hingabe auch weitergeben. Deshalb initiieren Weber und Kielgas unter dem Namen „Arcadia ca. 1800“ Einladungen für Bekannte und Interessenten, die sie „zum Klassizismus anstiften“ wollen. Im März ist der nächste Salon geplant, in dem die „Ästhetik des Klassizismus über 4000 Jahre“ diskutiert wird. Ausgewählte Händler präsentieren Pretiosen von ägyptischen Antiken bis hin zu Silber des Art déco. Sogar ein jüngerer Künstler, Heiner Meyer, der nach antiken Vorbildern arbeitet, ist geladen. Auch eine Gegenwelt braucht Gegenwart.

Eva Karcher

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