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Das Spruchband "Arbeit macht frei" prangt über dem Konzentrationslager Auschwitz.

© dpa

Die geheimen Aufzeichnungen des Häftlings Witold Pilecki: Freiwillig ins KZ

Mit der Nummer 4859 war er im Konzentrationslager aktenkundig registriert worden: Witold Pilecki berichtete bereits 1941 über den Massenmord in Auschwitz.

Kurz nach dem Erscheinen des Buches von Witold Pilecki „Freiwillig nach Auschwitz“ wurden in einem Massengrab auf dem Warschauer Friedhof Powazki die Überreste eines Offiziers der polnischen Vorkriegsarmee identifiziert. Nach einem Schauprozess wurde er 1951 hingerichtet und dort mit einigen hundert anderen Opfern der kommunistischen Justizmorde namenlos verscharrt. Meist waren es Offiziere der regulären Einheiten, aber auch Kämpfer der polnischen Untergrundarmee AK, die zuerst gegen die Nazi-Okkupation und 1945 dann gegen das kommunistische Regime kämpften. In dem Grab werden auch die Überreste des Rottmeisters Witold Pilecki vermutet. Im Mai 1947 vom Ministerium für Öffentliche Sicherheit verhaftet, gefoltert und in einem Schauprozess für schuldig befunden, Morde an kommunistischen Funktionären geplant zu haben – was er entschieden bestritt –, wurde er zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Sieben Jahre früher war Pilecki im Konzentrationslager Auschwitz mit der Nummer 4859 aktenkundig registriert worden. Im Unterschied zu allen anderen Häftlingen ließ sich Pilecki aber aus freien Stücken und mit Zustimmung der polnischen Heimatarmee am 19. September 1940 gezielt in einer Straßenrazzia der SS in Warschau verhaften, um nach Auschwitz zu gelangen. Sein Ziel war es, die Welt über die Situation in dem Vernichtungslager zu informieren, unter den Häftlingen Widerstandszellen zu gründen und dort einen Aufstand im Falle einer Aktion zur Befreiung der Häftlinge von draußen vorzubereiten.

Alltag in Auschwitz

Sein drehbuchreifer Bericht über den Alltag in Auschwitz wird durch mordlustige Kapo-Aufseher, durch Sadisten in SS-Uniformen, die Lagerleitung und den ständigen Überlebenskampf bestimmt. Auf 220 Buchseiten beschreibt Pilecki die alltäglichen Grausamkeiten und das Leiden der Opfer. Er zeigt aber auch Menschen, die unter den schlimmsten Bedingungen sich zu wehren versuchen. Dazu ermuntert er sie auch und baut mit ihnen ein immer besser funktionierendes Geheimsystem zur Selbsthilfe, das er auch nach dem Tod eines Teils seiner Mitglieder hartnäckig weiter aufbaut.

Pileckis Bericht ist ein Dokument, das unter den extremen Bedingungen des Vernichtungslagers geheim geschrieben und stückweise nach draußen geschmuggelt wurde. Dank ihm wussten die Briten und Amerikaner schon im März 1941 vom Massenmord in Auschwitz. Trotz des kühlen Berichtcharakters schuf Pilecki aber mit kurzen Sätzen, schlichten Beschreibungen, knapp gefassten Reflexionen und ab und an mit etwas Galgenhumor ein sich fließend lesendes und stets höchste Spannung erzeugendes Prosawerk. Auch die grausamen Kapo-Aufseher oder SS-Angehörige stilisiert er nicht etwa zu unmenschlichen Monstern, sondern beschreibt sie als Menschen mit ihren individuellen Eigenschaften, perversen Neigungen, sadistischen Vorlieben, ihrer Gier und Habsucht. Und, wo es ihm möglich war, sie in Erfahrung zu bringen, beschreibt er auch deren Herkunft und Familienbindung. Und er erwähnt vereinzelte Beispiele von Mitgefühl und Hilfsbereitschaft der Aufseher für die Opfer.

Pilecki kämpfte weiter im Untergrund

Aus Sicherheitsgründen schrieb Witold Pilecki in seinem Bericht fast nichts von seiner eigenen Familie, um sie im Falle seiner Dekonspiration nicht zu gefährden. Den historischen Hintergrund erfährt man in einem eigenen Kapitel. Auch dank der darin enthaltenen Fotos aus seiner Kindheit auf dem Familiengut sowie aus seiner Studien- und Militärzeit bekommt man einen Einblick in das Leben der polnischen Mittelschicht, der Pilecki entstammte und die durch den Überfall Nazideutschlands und Sowjetrusslands auf Polen 1939 abrupt endete. Er selbst kämpfte weiter im Untergrund und setzte seinen Kampf auch nach seiner Flucht aus Auschwitz im Frühling 1943 fort. Nach der Zerschlagung des Warschauer Aufstands 1944 als Kämpfer verhaftet, verbrachte er die Zeit bis zum Kriegsende im deutschen Internierungslager. Nach der Kapitulation Deutschlands kehrte er im Auftrag der polnischen Exilregierung im Westen als Verbindungsoffizier zu den antikommunistischen Widerstandsgruppen nach Polen zurück. Trotz der Gefahr, verhaftet zu werden, blieb er 1947 im Land.

Erst nach 1989 durften Forscher das Schicksal von Witold Pilecki und anderer Opfer der kommunistischen Justizmorde untersuchen. In der Einleitung schreibt der britische Historiker Norman Davies: „Pileckis Name steht für das tragische Schicksal von Millionen, die im Westen vergessen sind. Erst wenn man das wahre Grauen seines Schicksals erfasst, versteht man, worum es im Zweiten Weltkrieg in Europa wirklich ging.“ Andrzej Stach

Witold Pilecki: Freiwillig nach Auschwitz. Die geheimen Aufzeichnungen des Häftlings Witold Pilecki. Orell Füssli Verlag, Zürich 2013. 256 Seiten, 19,95 Euro.

Andrzej Stach

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