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Kultur: Die Geiger im Grammophon

Wie mir mein Vater die Magie der Musik näherbrachte / Von Claudio Abbado.

Ich hatte das große Glück, inmitten von Musik aufzuwachsen. Unser Haus war voll von Instrumenten (wir hatten zwei Klaviere!), von Mamas Schülern, denen sie Klavierunterricht gab, und von Papas Freunden, die zusammen mit ihm musizierten. Mein Vater hatte einen wundervollen Beruf: Er war Geiger.

Sein Übungszimmer lag weitab von meinem Kinderzimmer, und ich weiß noch genau, wie ich einmal, als ich noch sehr klein war, so von dem Zauber angelockt war, der diesen Raum umgab, dass ich mich auf Zehenspitzen dorthin geschlichen habe. Durch die angelehnte Tür sah ich, wie Papa seine Geige in einer Sprache erzählen ließ, die ich nicht verstand. Die Sprache hörte sich sehr kompliziert an, aber einfach unglaublich schön. Ich bin lange dort stehen geblieben, ganz leise, weil ich Angst hatte, die Magie dieser besonderen Erzählung zu stören.

Später habe ich dann erfahren, dass mein Vater damals ein Stück von Johann Sebastian Bach spielte. Bei dem Stück handelte es sich um die sogenannte Chaconne. Dieser für mich lustig klingende Name, so erzählte mir Mama später, bezeichnet einen alten spanischen Tanz. Mama dagegen verzauberte mich mit Geschichten über Sizilien, ihre Heimat, und über das ferne Persien.

Für mich waren auch ihre faszinierenden Erzählungen Musik. Ich bat sie, mir alles über die geheimnisvollen Klänge zu erzählen, die Papas Leben erfüllten, und sie verstand es, diese Welt für mich viel spannender zu machen, als alle Märchen und Geschichten es hätten sein können.

Wenn ich auf unserem alten Grammofon den 78er-Schallplatten lauschte – den damaligen Schellack-Platten, die sich schwer unter der metallenen Nadel drehten –, fragte ich mich immer, wie sich bloß in diesem seltsamen Kasten jemand verstecken und so viele Töne hervorbringen konnte.

Eines Nachts hatte ich einen fantastischen Traum: Der Deckel des Grammophons öffnete sich wie durch Zauberhand und heraus kamen ganz viele kleine Männchen, jedes mit seinem Instrument in der Hand. Als sei es das Normalste der Welt, liefen sie durch unser Haus und über mein Bett und zogen sich bei Sonnenaufgang wieder in ihre Musikkiste zurück.

Noch heute, wo ich ja längst wissen müsste, wie ein Plattenspieler funktioniert, stelle ich mir gerne vor, wie in der Nacht diese geheimnisvollen, winzigen Musiker im Haus umherstreifen.

Ich war sieben Jahre alt, als ich zum ersten Mal in die Mailänder Scala ging, das weltberühmte Opernhaus in Mailand. Als ich mich vom obersten Rang, also von der Sitzreihe aus, die dem Dach am nächsten ist, über die Brüstung lehnte, sah ich ganz weit unten lauter winzige Musiker, genau wie in meinem Traum. Und einer von ihnen wirbelte mit seinen Händen herum, was ganz wundervolle Klänge auslöste. Sie spielten die „Nocturnes“ von Debussy, der mit seiner Musik Licht und Farben fast zu malen scheint. Am meisten hat mich die Musik des zweiten Stücks – die sogenannten „Fêtes“ – beeindruckt: Darin gibt es einen Trompetenton, der aus der Ferne zu kommen scheint und beim Näherkommen wie durch Zauberei immer lauter wird.

Zu Hause habe ich dann gefragt, wer dieses kleine, mir allmächtig vorkommende Männchen auf dem roten Podest gewesen sei: Es war Antonio Guarnieri, ein großer Dirigent. Ich nahm gleich mein Tagebuch zur Hand und schrieb hinein, dass eines Tages auch ich diese Musik dirigieren würde.

Als ich viele Jahre später selbst einen Sohn hatte, habe ich ihm einmal die „Nocturnes“ vorgespielt, die mich in seinem Alter so sehr beeindruckt hatten: Mein kleiner Sohn riss die Augen weit auf, so als würde er einem Märchen lauschen, und an genau derselben Stelle der Musik wiederholte sich das Wunder. Jener Abend in der Scala war für mich unglaublich wichtig: Ich war wie verzaubert von der Möglichkeit, zusammen mit vielen anderen zu musizieren, und auch von der Bedeutung dieses kleinen Mannes, der sie wie Marionetten führte.

Am nächsten Tag fing ich an, Klavier zu lernen, damit auch ich eines Tages gemeinsam mit anderen Musik machen konnte. Zunächst einmal aber hörte ich mit ganz neuen Ohren aufmerksam zu, wenn mein Vater probte, begleitet vom Klavierspiel meiner Mutter. Ich hoffte, eines Tages gut genug zu sein, um Mama zu ersetzen und Papa selbst begleiten zu können.

Eines Tages wurde Mama krank und Papa meinte zu mir, ich solle mich ans Klavier setzen und versuchen, zusammen mit ihm zu spielen. Ich war sehr aufgeregt und hatte überhaupt nicht das Gefühl, schon so weit zu sein. Ich begann zu spielen und war dabei stolz auf diese neue Rolle, aber dann kam alles ganz anders, als ich es mir erhofft hatte: Es war eine totale Pleite, denn es war furchtbar schwierig, Papas Geigenspiel zu folgen. Und er war in dieser Beziehung sehr streng und schonungslos.

Er schimpfte, ließ mich viel zu schnell spielen und gönnte mir keine einzige Pause. Eigentlich war es auch später immer so, wenn ich mit meinem Vater spielte, selbst als ich dann viel besser geworden war. Wenn es um die Musik ging, stellte er – sicherlich zu Recht – extrem hohe Anforderungen und statt seiner sonst sprichwörtlichen Geduld erlebte man nur noch schonungslose Kritik. Die größte Überraschung – und auch das wichtigste Geheimnis –, das er mir hinterlassen hat, ist dieses: Mit jemandem gemeinsam Musik zu machen, heißt nicht so sehr spielen zu können, sondern vielmehr, wirklich zuhören zu können.

Von ihm habe ich gelernt, dass man ein Musikstück nur wirklich begleiten kann, wenn man sehr aufmerksam hinzuhören vermag, wenn man es voll und ganz annehmen und bis in seine verborgensten Winkel verstehen kann. Auch im Leben muss man, wie in der Musik, anderen zuhören können, wenn man ihren Gedanken wirklich folgen möchte.

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