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Kultur: Die Geschichte vom höflichen Harald - dessen Arglosigkeit ist für ihn Fallstrick und Rettungsleine zugleich

"Das ganze menschliche Leben ist ja von Irrtümern umlauert, falsche Eltern, falsche Freunde, falsche Gemeinde. halte Dich lieber an das, was im Meer lebt .

"Das ganze menschliche Leben ist ja von Irrtümern umlauert, falsche Eltern, falsche Freunde, falsche Gemeinde. halte Dich lieber an das, was im Meer lebt . . ." Diesen unergründlichen Ratschlag übersandte uns Sibylle Lewitscharoff, Schöpferin des preisgekrönten "Pong", bereits in ihrem ersten Buch "36 Geschichten", einer skurrilen Versammlung barocker Zwischenwesen, wie sie seitdem dem wundersamen Reich der Lewitscharoffschen Geschichten angehören.

Wo aber liegt dieses Reich? Wo liegt es überhaupt, das Reich der Geschichten? Sicher ist: Sibylle Lewitscharoff kennt den Eingang - wenn sie selbst dieses Land auch immer wie durch die Hintertür betritt und vor uns Geschichten ausbreitet, die in jeder Hinsicht des Wortes verrückt: von ihrer Kehrseite aus wiederum in die Welt treten. "Pong", 1998 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis bedacht, war nicht nur die Geschichte eines an der Welt irr Gewordenen, sondern stülpte die Innenlogik einer solchen Wahrnehmungsverschiebung in die Ordnung des Erzählerischen um. Mit "Der höfliche Harald" lädt uns Lewitscharoff für dieses Mal auf eine Abenteuerreise zu Wasser und zu Lande. Ziel: Oblivion, das Land, in dem die Geschichten ihrer Vollendung entgegenharren. Zwischenstationen: die Kaldaunischen Inseln oder Isola Muris, ein Land, in dem man schnellen Prozess zu machen pflegt; Krakeele, die Insel der Zwietracht sowie die Stadt Fättskärnsläsningförbarn, in der der Held in den Hafen der Ehe einzuschiffen droht. Der Held selbst heißt Harald, ist 9 1/2 Jahre alt und von eher höflich-zurückhaltender Natur, dem sein eigenes Held-Sein so stark zu widerstreben scheint, dass er noch von seiner Mutter aus dem Hause geschickt und gezwungen werden muss, seine eigene Geschichte zu bestehen.

Scheinen die Ingredienzien in "Der höfliche Harald" auch allein der Logik des Märchenhaften zu gehorchen, so nabelt die Geschichte doch an ihrer Unterseite in jener grundlegenden Zumutung, die es für das Kind überhaupt bedeutet, überzutreten in die Ordnung des Erwachsenseins. Einmal vertrieben, warten denn auch auf Harald diverse Herausforderungen und Prüfungen - allen voran die Erfüllung der mütterlichen Drohung, erst wieder heimzukehren, wenn er eine Braut gefunden habe. Bis es jedoch soweit ist, hat Harald bereits auf dem alten klapprigen Kahn des Käptain Drago, den er zum Freund gewonnen hat, nach langer Fahrt auf unbekannten Gewässern die sagenumwobene "Große Gardine" passiert, jenes geheimnisvolle Tor in eine andere Welt: eine Welt, in der fortan das Allmögliche die phantastische Regentschaft übernimmt und das verspielte Detail über das unbegreifliche Ganze triumphiert.

Die drei Sidonies - drei äußerst zickige und bisweilen böswillige Mäusedamen namens Sidonie-Isabell, Sidonie-Karamell und Sidonie-Grisaline - in Zaum zu halten, wie es Haralds Aufgabe als Schiffsjunge ist, wird sich in dieser Welt bald als geringfügig erweisen angesichts der Todesstrafe per Durchschneiden, die ihn auf Isola Muris, dem Reich des Großen Ratzeputz, wegen seiner kindlichen Neugierde ereilt. Doch kein Märchen ohne Rettung: Von den Sidonies erstaunlich liebevoll wieder zusammengeklebt, entkommt er kurz darauf auch den Plänen von Ladislaus, eines wegen Kollegendauerzwists nach Krakeele strafversetzten Zoologen, der ihn dazu zwingen will, das "Abecedarium der Grillen zu bimsen".

Man ahnt es bald: des Helden Arglosigkeit ist ihm Fallstrick und Ausweg zugleich - bis ihm die eigentliche Prüfung auferlegt wird, muss Harald doch vergegenwärtigen, dass er, inzwischen vorwitziger geworden, einen Heiratsvertrag unterschrieben hat. Nicht nur die Erzählung, auch Lewitscharoffs Erzählopulenz selbst gipfelt gleichsam im barocken Dekor der Hochzeitsszenerie. Der mangelt es an nichts, denn schon für das ausladende Gästedefilée zitiert Lewitscharoff, mit der ihr eigenen erfinderischen Lust an der Sprache selbst, alle nur denkbaren Wesensherrlichkeiten, wie sie vielleicht allein die Wirklichkeit zu bieten hat: "Kalmücken, Seidenäffchen, Pekinesen, Möpse, ein Doktorfisch und jede Menge Vögel".

Es sind solche Durchlässigkeiten, beständig irrlichternden Übergänge zw ischen dem Reich der Realien und dem der Phantasie, die diesen Text in jedem Sinne unfassbar machen. Nie ist nämlich gesichert, ob das eine nicht auf etwas ganz anderes verweist. Sicher ist nur: Hier hüpft alles aus dem Kanon der ihm eigenen Ordnung - und wenn es noch die augenzwinkernde Verkehrung ist, mit der Lewitscharoff das Motiv des Froschkönigs auf den Kopf stellt, ist es Harald doch bestimmt, ein Töchterchen solch glitschig-kalten Geblüts zu freien.

So werkelt auf der einen Seite eine bewusste Verschiebung des Sinns, die als ihren unverkennbaren Ahnherren die Nonsense-Tradition englischer Kinderliteratur - und das ist "Der höfliche Harald" auch - erkennen lässt und in dem Lewitscharoffschen Ding- und Wortgewimmele à la Grönlandmost und Prickelbier einen würdigen Nachfolger findet.

Was Sibylle Lewitscharoff anbelangt, so hat sie auch ihren "höflichen Harald" - dessen gesamte Diktion wesentlich schlichter ist als noch die ersten beiden Veröffentlichungen wieder einmal vervollständigt mit Illustrationen aus der eigenen Feder: einem filigranen Zeichenwerk mit Hang zum Karikaturistischen. So ist im Lande der Lewitscharoffschen Geschichten nichts so richtig zu begreifen, wenig nur zu fassen, vieles aber dafür zu bestaunen. Bitte eintreten!Sibylle Lewitscharoff: Der höfliche Harald. Mit Illustrationen der Autorin. Berlin Verlag 1999, 179 Seiten, 29,80 Mark.

Claudia Kramatschek

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