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Michael Nagy als Tamare, Peter Hoare als Alviano.

© Komische Oper/Iko Freese

"Die Gezeichneten" an der Komischen Oper: Das Elysium ist die Hölle

Wenn Herrenmenschen die Lust überkommt: Calixto Bieito inszeniert an der Komischen Oper Franz Schrekers Psychodrama „Die Gezeichneten“.

Von allem viel zu viel. So funktioniert die Musik Franz Schrekers. Ohne Unterlass branden spätromantische Klangwogen auf den Hörer ein, mit feinem Instrumentationsnebel und polychromer Gischt. Ein paar Jahre waren die übernervösen Partituren des 1878 geborenen Komponisten groß in Mode, schon ab Mitte der 1920er Jahre aber galt seine schäumende Emotionalität unter den Avantgardisten als altmodisch, hoffnungslos in postwagnerianischer Dekadenz gefangen.

Problematischer als Schrekers Tonsprache, dem Menschen, die die Ästhetik von Jugendstil und Symbolismus schätzen, heute wieder Einiges abgewinnen können, sind die verquasten Libretti, die er sich selber für seine Opern geschrieben hat. „Die Gezeichneten“ von 1918 ist dabei das giftigste Gebräu. Weil der Komponist hier das toxische Gedankengut des auch von Mussolini und Hitler geschätzten Psychologen Otto Weininger verarbeitet. Der war zum Beispiel davon überzeugt, dass Frauen primär zum Kinderkriegen geboren sind, weil sie im Gegensatz zum höher entwickelten Mann Erotik nicht körperlich empfinden könnten. Allenfalls auf einer sekundären Ebene, beispielsweise in der Kunstproduktion.

Franz Schreker stellt mit Carlotta eine präraffaelitische femme fragile ins Zentrum der Oper, eine junge, herzkranke Malerin von blendender Schönheit. Der verfallen zwei Genueser Edelmänner des 15. Jahrhunderts: der reiche, aber körperlich entstellte Alviano und sein Gegen- Ich, der reckenhafte Tamare.

Perverses Setting

Letzteren zeichnet Schreker als Herrenmenschen, der mit seiner Clique auf einem künstlichen Eiland namens „Elysium“ systematisch Jungfrauen schändet. Diese Insel wiederum hat ihm Alviano eingerichtet, der an den Orgien jedoch nie teilnimmt. Sein eigenes unterdrücktes Triebleben lässt er stellvertretend durch Tamare brutale Realität werden.

Als Carlotta beschließt, ein Gemälde von Alviano anzufertigen, verliebt sie sich in den Krüppel, der ihre Gefühle beglückt erwidert. Doch kaum ist der kreative Akt abgeschlossen, erlischt das Interesse der Malerin an ihrem Modell. Sie gibt sich dem rassisch reinen Tamare hin – was ihr schwaches Herz aber nicht überlebt. Indem Alviano den Nebenbuhler tötet, zerstört er auch sich selbst.

Dem perversen Setting fügt Calixto Bieito bei seiner Inszenierung an der Komischen Oper nun noch eine weitere Ebene des Grauens hinzu. So wie man es von diesem Skandalregisseur erwartet. Nur leider arbeitet er im Fall der „Gezeichneten“ mit Behauptungen, die sich beim besten Willen nicht aus dem Original ableiten lassen. Die „jungen Mädchen“, die im Libretto auf die „Elysium“-Insel entführt werden, definiert Calixto Bieito kurzerhand als Kinder, die er dann wiederum auf Jungen reduziert. Tamare und sein durch und durch heterosexueller Stoßtrupp werden damit zu Gelegenheitspäderasten. Oder, was nicht weniger verwerflich wäre, zu Betreibern eines Bordells für Sex mit Minderjährigen.

Mühevolle Verknüpfung der Figuren

Doch damit nicht genug. Alviano ist bei Calixto Bieito kein durch Behinderungen Stigmatisierter, sondern ein seelisch Versehrter. Zwei Dinge diagnostiziert der Regisseur: Zum einen den Peter-Pan-Komplex, also die Weigerung, erwachsen zu werden, das sich ausdrückt in einem manischen Klammern an die Kinderwelt, wie man das von Michael Jackson kennt. Zum anderen aber zeigt Bieito auch, dass Alviano einen Knaben begehrt. Den Kontakt mit ihm imaginiert er zunächst nur, im dritten Akt aber steigt er dann auch ganz real zu ihm in eine Miniatur-Eisenbahn, die über die Bühne kreist.

Nur mit äußerster Mühe vermag der Regisseur diese Deutung der Figur Alvianos mit der Carlotta-Handlung zu verknüpfen. Er muss seiner Protagonistin dafür die Aura der mysteriösen Zerbrechlichkeit nehmen. Also lässt er sie gleich zu Beginn lüstern-offensiv in Tamares Hose greifen. Und nach der Vergewaltigung, die der Herrenmensch librettogerecht in einem „Du wolltest es ja auch“- Monolog rechtfertigen darf, ist es nicht Alviano, der Tamare tötet, sondern die Betroffene selbst. Und zwar mit bloßen Händen.

Warum aber interessiert sich diese selbstbewusste Carlotta zuvor überhaupt für Alviano? Was ist gemeint, wenn sie ihn in ihr Atelier bittet und sich ihm dort in der Schuluniform seines Sehnsuchtsknaben präsentiert? Will sie seine geheimen Fantasien erfüllen? Oder ihn so womöglich heilen? Calixto Bieito bleibt die Antwort schuldig. So wie seine Inszenierung auch im Ganzen keine Haltung hat, das Entsetzliche nur voyeuristisch vorführt.

Einfallslos und ohne Sinnlichkeit

Präzise führen die Darsteller die Anweisungen ihres Regisseurs bei der Premiere am Sonntag aus – wirklich überzeugt scheinen sie dabei nicht. Darum geht das wüste Treiben auf der Bühne auch nicht unter die Haut. Und zwingt den Betrachter dennoch dazu, ununterbrochen an der Entschlüsselung der Bilderrätsel zu arbeiten. Die zu allem optischen Überfluss auch noch als Traumsequenzen in slow motion auf die Wände projiziert werden. Wodurch eigentlich zu wenig Aufmerksamkeit für die musikalische Seite übrig bleibt.

Wer trotzdem genauer hinhört, stellt enttäuscht fest, dass der Dirigent Stefan Soltesz zwar souverän zwischen Orchestergraben und Bühne vermittelt, dass die Klängen aber von der brachialen Regie weitgehend neutralisiert werden, dass ihnen das Parfum fehlt, dieser charakteristische, narkotisierende Schreker-Duft. Ein Gefühl fürs Dekadent-Spätromantische, fürs geschmeidig sich Einschmeichelnde dieser Partitur geht auch den Solisten ab. Sehr kantig wird da gestaltet, Ausrine Stundytes Carlotta hat oft arg viel metallische Schärfe, und auch der Antagonismus der Männer bleibt vokal undeutlich, weil Peter Hoare das fragile Innenleben Alvianos nicht hörbar machen kann, sondern genauso hart und geradeaus singt wie Michael Nagy als Tamare.

Keinerlei Hilfe bieten Szene und Kostüme, weil sie sich jeder Sinnlichkeit, jeder Schaulust verweigern: Die einfallslos-zeitgenössischen Alltagsklamotten von Ingo Krügler sagen nichts aus über die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Adel und Volk, die doch so entscheidend sind für die zynische Logik des Stücks. Und Rebecca Ringst lässt das Publikum zwei Akte lang auf die grellweiß ausgekleidete, leere Vorderbühne starren, die auf Höhe des Eisernen Vorhangs abgeriegelt ist. Im Finalakt, der auf der Zauberinsel spielt, steht ein dreistöckiges Metallgerüst ungenutzt herum, der Neon-Schriftzug „Elysium“ sowie Plüschteddys und aufblasbare Gummitiere markieren einen tristen Vergnügungspark des Horrors. Eine Produktion also, deren Besuch man sich sehr gut überlegen sollte.

Wieder am 27. Januar sowie am 1., 10. und 18. Februar.´

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