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Kultur: Die Götter müssen entrückt sein

Weltenwanderer: zum Abschluss Tankred Dorsts und Christian Thielemanns Bayreuther „Ring“ im zweiten Jahr

Tankred Dorsts Idee mit der Parallelwelt ist eigentlich ein toller Regieeinfall. Die Germanen-Götter, sie leben mitten unter uns, nur haben wir den Kontakt zu ihnen verloren. Ein Hausmeister kontrolliert im Rheingold die Thermostate im Nibelheim-Heizungskeller, gleich daneben zanken Loge und Alberich. Ein Radfahrer sitzt in der Walküre auf der Wiese und liest Zeitung, gleich daneben ziehen Siegmund und Hunding in ihre tödliche Schlacht. Eben das sind Klassik, Oper, Theater: Mittendrin- und Daneben-Schauplätze, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Es geht nur darum, dem zweiten Gesicht Profil zu verleihen.

Auch die Bühnenbilder sind nicht ohne. Waschbeton-Gegenwart, Heldenfriedhof, Steinbruch, Zitate aus älteren „Ring“-Inszenierungen. Ruinen der Neuzeit, zwischen denen sich nur noch Wotans Kopf, Rudiment einer Monumentalstatue, mechanisch um die eigene Achse dreht. Auch das ist Bayreuth, auch das ist der Klassikbetrieb: stilllebige Selbsterkenntnis. Vielleicht wollen Frank Philipp Schlößmanns Bühnenbilder ja den Status quo bloßlegen, die totale Verdinglichung, nach dem Motto: Hier wächst schon lange keine Kraut mehr.

Allein, ein Konzept macht noch keine an- oder aufregende „Ring“-Deutung. Wenn der „Rheingold“-Action die Psychokriege der „Walküre“ folgen, wenn zwischen Siegmund und Sieglinde, Fricka und Wotan und Brünnhilde Seelen- und Liebesnöte rezitativisch ausbuchstabiert werden, ist Dorsts distanzierte (gegenüber dem Vorjahr offenbar unveränderte) Personenstaffage eine Qual. Zumal sie erneut Christian Thielemanns Dirigat konterkariert, schlägt sich die Musik doch auf die Seite des Zeitungslesers und liest den „Ring“ wie eine Nachricht von den Kriegen der Gegenwart: Geiselnahme in Nibelheim! Gewalt gegen Frauen!

Ob Thielemann die natürliche Autorität der Leitmotive hervorkehrt, ob die Holzbläser das Wälsungenmotiv unendlich behutsam bis in die Celli weiterreichen, die Nah- und Fernwirkung des „Walküren“-Vorspiels schier mit Händen zu greifen ist oder die Maschinenmusik der Nibelheim-Fabrik weniger nach Industrialisierung klingt als nach den Segnungen hypermoderner Technologie: Thielemann legt im „Ring“ das menschliche Maß frei. Er überzeugt, statt zu überwältigen. Und verweigert den WagnerRausch nicht, sondern spart ihn auf: Erst Sieglindes Jubelschrei über das Kind, das sie im Leib trägt, ist wirklich ein Schrei – das erste Forte nach fünf Stunden „Ring“.

Thielemann, ein Verfechter der blitzgescheiten, quicklebendigen Klangrede. Und ein Dirigent der Frauen. Es ist, als ob er seinen Ruf als Meister des sogenannten deutschen Klangs lügen strafen möchte. Wie diese Musik die Sänger anfasst! Allen voran den strahlenden Sieglinde-Sopran von Adrianne Pieczonka (die einen besseren Partner verdient hätte als den mit der Siegmund-Partie hoffnunglos überforderten Endrik Wottrich). Und zunehmend auch Albert Dohmens Wotan, der als liebend-verzweifelter Vater am Schluss der „Walküre“ weit mehr anrührt als mit seiner Göttergatten-Partie im „Rheingold“. Feuerzauber: Am Ende spinnt das Orchester für die schlafende Brünnhilde ein unendlich zartes Traumgebilde. Da ist es, das zweite Gesicht.

Der Ring, eine Zerreißprobe. Es käme darauf an, zwischen den Welten, zwischen Wotan und dem Zeitlungsleser zu wandern und das menschliche Maß mit der Saga von den Überirdischen kurzzuschließen. Denn Bayreuth ist beides: Museum und Forschungslabor, Weltkulturerbe und Welterkundung. Nur wer sich dem Wagner-Paradox stellt, hat dem Hügel eine Zukunft zu bieten. Dorsts Regie setzt sie aufs Spiel. Christiane Peitz

Waldweben. „Wachsendes Waldweben“: Das klingt so vertraut und doch neu und ausdrucksvoll, dass es kein Herz verfehlt. Liebliche Sechzehntel, sublimierte Natur. Christian Thielemann erzählt mit dem Festspielorchester das Märchen vom jungen Siegfried. Der auszog, das Fürchten zu lernen, der die Sprache des Waldvögleins versteht und seine Traumfrau erweckt. So werden Märchen wahr. Der Königssohn küsst Dornröschen auf den Mund.

Aber halt! Anders als der Märchenprinz, für den sich die Geschichte glücklich vollendet, ist Siegfried unfrei, verstrickt in den tragischen Mythos der Götter, Riesen und Zwerge. Sein Hornruf im Wald ist der diskrete Anfang vom Ende.

Thielemann dirigiert diese thematische Einheit. Das ist das Sensationelle seiner Interpretation. Längst vergessen geglaubter Beziehungsreichtum taucht auf, den komödiantischere „Siegfried“-Inszenierungen der letzten Jahrzehnte unter dem Verschluss ihrer Bilder gehalten haben. Da hier die Musik dominiert, erinnert sie jeden Augenblick an die Verankerung des heiteren Intermezzos in der Wotan-Handlung. Bei geschlossenem Vorhang öffnen die Orchestervorspiele Freiräume für die Fantasie. Leise grübelt das Unheil im Wald, bevor Mime, zwangsvoll hämmernd, an seinem Arbeitsplatz zu klagen beginnt. Die Leitmotive als „Gefühlswegweiser“, die unerhört mächtige Generalpause im Dialog des Wanderers mit Erda, dem „ewigen Weib“. Das Orchester, in welchem sich viel Wagner-Erfahrung aus Dresden, Leipzig und Berlin versammelt, folgt dem Abenteuer einer historischen Wiedererweckung.

Im ersten Aufzug, der in einer Art Klassenzimmer spielt, beschert die Inszenierung Tankred Dorsts Momente, die die Zuschauer dankbar schmunzeln lassen. Wie der Wanderer sich selbst hinter der Schiefertafel hervorzaubert, wie er dem Zwerg die Wissenswette aufzwingt, indem er sich in die Schülerposition begibt, wie später auch Siegfried. Versteht sich, dass Mime seine Lehrerstellung nicht halten kann. Der Rest wirkt so, als hätten die Akteure ihn sich nach Maßgabe ihrer schauspielerischen Talente selbst zurechtlegen müssen.

Dabei liefern sich Gerhard Siegel (Mime), Andrew Shore (Alberich) und Albert Dohmen (Wanderer) spannende Wortgefechte. Für Dohmen kommt Respekt und Sympathie auf, weil er den abtretenden Göttervater textbewusst mit baritonaler Autorität versieht. Als Siegfried spart sich Stephen Gould die Reserven seines halbmatt schimmernden Tenors für die Begegnung mit der stimmlich bibbernden Brünnhilde Linda Watson auf. Große Enttäuschung! Bayreuth heute: Die Liebesszene der beiden auf dem Walkürefelsen klingt so erotisch wie ein Durchhalteabkommen. Sybill Mahlke

Und dann passiert doch noch etwas: Edith Haller, die Gutrune, stolpert über ihr Wallegewand, schlägt lang hin, rappelt sich auf, sprintet die Treppe der Giebichungenhalle hinauf und ist gerade noch rechtzeitig zu ihrem Einsatz an der Reling, um Siegfried, den Helden, zu bejubeln. Die junge Sängerin aus Meran nimmt Pannen nicht nur sportlich, sie ist überhaupt die Entdeckung dieses zweiten „Ring“-Jahrs. Mit Simone Schröder und Martina Dike macht sie im Nornen-Trio gleich den Beginn der Götterdämmerung zum vokalen Glanzpunkt des Abends, der Nebenrolle der Gutrune verleiht sie mit klarem Sopran und bedachter Textbehandlung Charakter.

Von Linda Watsons Brünnhilde versteht man dagegen weiter kein Wort. Dabei zeigt sie mehr Durchhaltevermögen als Stephen Gould, der Siegfrieds finale Waldvogel-Erzählung nur noch mit brachial gestemmten Spitzentönen übersteht. Kaum jagtt ihm Hagen (ein Bär von Bariton, aber ohne Dämonie: Hans-Peter König) den Speer ins Kreuz, findet er allerdings zum ausdrucksvollen Piano zurück – zu spät, er verendet allein auf weiter Bühne; der Trauermarsch hebt an, wuchtig, schwermetallisch-erzern. Überhaupt verliert Christian Thielemanns Dirigat nach lebensvoll pulsierenden Passagen und einer prächtigen „Rheinfahrt“ an Schwung, die Tempi lahmen, das Orchester zieht sich gleichsam in sich zurück – als wären Maestro und Musiker müde vom Kampf gegen das szenische Vakuum, wünschten sich nur noch das Ende. Wie der verbitterte, desillusionierte Wotan.

Den Weltenbrand hat Tankred Dorst neu bebildert: Die fliehenden Choristen kommen nun nicht wieder, um das Publikum anzustarren. Stattdessen streunt ein Kind im Kunstnebel herum und findet Gunthers Krone. Ein Liebespaar tritt hinzu, er klappt quietschend den Fahrradständer aus, während im Graben das Liebes-Motiv ertönt. Achtung, das Leben in der Parallelwelt geht weiter! Dann ist der Vorhang zu – und es gibt, gemessen am gewöhnlichen Bayreuther Klatschverhalten, fast keinen Applaus. Allenfalls höflich mag man die Lautstärke beim Defilée der Sänger nennen, das Regieteam wird (an)gemessen ausgebuht. Allein als Thielemann mit dem Orchester erscheint, brandet erneut Jubel in gewohnter Dezibelstärke auf. Ums Festspielhaus weht ein kühler Nachtwind. Frederik Hanssen

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