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Kultur: Die Grausamkeit des Seins

Uns näher als Wagner und Verdi: zum anhaltenden Boom der Barockoper

Die Geschichte ist nicht eben das, was man sich unter einer schönen Oper vorstellt. An die zwanzig Jahre sind Gualtiero und Griselda schon verheiratet, als der Mann plötzlich beginnt, seine Frau zu demütigen. Immer mehr mutet er ihr zu, treibt ihre psychische und körperliche Erniedrigung bis ins Extrem. Erst als sie nur noch sterben will, hört er auf und versucht, wieder ein heiles Familienleben zu führen. Kein Zweifel, Alessandro Scarlattis 1721 uraufgeführte „Griselda“ ist eine Oper, die das 19. Jahrhundert ganz oben auf den Index gesetzt und an der Sigmund Freud seine helle Freude gehabt hätte. Beide aus dem gleichen Grund: Gegenüber den romantischen Musikdramen Verdis und Wagners mit ihren emphatisch scheiternden Lebensträumen nimmt „Griselda“ die denkbar stärkste Gegenposition ein – die eines Musiktheaters, dessen Relevanz nicht in Lebenoder-Tod-Fragestellungen, sondern in den Grausamkeiten des Alltäglichen liegt – egal, was passiert, am Ende muss man miteinander weiterleben.

Vermutlich ist es gerade diese Verweigerung gegenüber einfachen Lösungen, die für den Boom verantwortlich ist, den die Barockoper seit etwa zwanzig Jahren erlebt. Nachdem zunächst der Aufführungsschwerpunkt auf den emotional fasslicheren, effektvolleren Opern Händels lag, rücken jetzt zunehmend die originären Opern des italienischen Barock mit ihren subtileren Verlaufsmustern ins Blickfeld – diejenigen Antonio Vivaldis und auch die des eine Generation älteren Alessandro Scarlatti, der zu seinen Lebzeiten als wichtigster Opernkomponist Italiens galt.

Bereits die Wiederaufführung der „Griselda“ durch René Jacobs vor drei Jahren an der Berliner Lindenoper wurde zum Triumph, die soeben erschienene CD-Produktion des Werkes (harmonia mundi france) bekräftigt noch einmal nachdrücklich, dass hier eine der bedeutendsten Opern nicht nur des Barock, sondern der ganzen Musikgeschichte zutage gefördert worden ist. Das liegt vor allem daran, dass Scarlatti diesen Psycho-Stoff auf faszinierende Weise in Musik umsetzt und in dieser seiner letzten, 114. (!) Oper die ganze Summe seines Schaffens als Bühnenkomponist zieht.

Bereits zu ihrer Entstehung war „Griselda“ ein Stück für Kenner – auf Grund der Großzügigkeit seines Mäzens, des steinreichen Fürsten Ruspoli, der auch für das Libretto sorgte, brauchte Scarlatti auf keinen Massengeschmack und keine Sängerwünsche Rücksicht zu nehmen. Die Arien sind ungewöhnlich knapp, dafür aber im Widerspiel von Stimme und dem differenzierten, psychologisierenden Orchesterpart ungewöhnlich komplex. Oft sind es ganz jähe, schroffe Impulse der Streicher, die in den Mittelteilen der Arien – wie beispielsweise Gualtieros „Che bella tirannia“ im ersten Akt – die Maske herunterreißen und für Momente die wahre Seelenlage der Figuren entlarven. Scarlatti unterwirft seine Musik hier einem extremen Belastungstest zwischen Konvention und Emotion und fällt bis zuletzt kein eindeutiges Urteil über seine Figuren. Ist Griselda nun tatsächlich die demütige Dulderin? Oder ist diese Demut in Wahrheit ein Gefühlspanzer, eine Weigerung, Schwäche zu zeigen und sich einer Beziehung hinzugeben? Und ist Gualtiero, der scheinbar Grausame, am Ende vielleicht derjenige, der die ganze Zeit lediglich versucht hat, seiner Frau endlich nahe zu kommen?

Die Aufnahme belässt diesen Zwiespalt – und wird gerade dadurch dem Werk gerecht. Dorothea Röschmann, die Diva der Barockoper, gibt ihrer Griselda eine ganz eigentümliche innere Reserviertheit und lässt die Demutshaltungen oft so zur Pose erstarren, dass darunter innere Stärke, aber auch Unnahbarkeit und Selbstgefälligkeit fühlbar werden. Selbst ihre große introvertierte Arie „Finira, barbara sorte“, der Haltepunkt des Stücks, hat etwas von genießerischem Wundenlecken. Den um sie werbenden Ottone (die herrlich fiese Silvia Tro Santafé) weist sie mit unsympathischem Hochmut ab. Der Countertenor Lawrence Zacco dagegen ist ein weicher Gualtiero, kein Despot, sondern eher ein schwacher Typ, der zur Gewalt greift, weil er keinen anderen Ausweg sieht.

Gegenüber dieser zerrütteten Ehe bildet die Teenager-Liebe zwischen Griseldas Tochter Costanza und Roberto (beide gegenüber der Staatsopern-Produktion umbesetzt) auf den ersten Blick nur die dramatische und musikalische Kontrastfolie noch ungebrochener Gefühle, doch auch die relativ konventionelle Faktur dieser Rolle macht im Gefüge Sinn – viel an eigener Persönlichkeit hat der Knabe eben noch nicht aufzubieten. Aber auch hier, etwa in Costanzas wunderbarer, von Veronica Cangemi hingebungsvoll gesungener Zeitlupen-Arie „Qualor tiranno amore“ baut Scarlatti seine subtilen Charakterhinweise ein, deutet durch messerscharfe Violinstaccati an, dass in dem süßen Mädchen eine ganze Portion kindlicher Grausamkeit steckt. Nein, schön oder gar romantisch ist diese Geschichte sicher nicht. Aber, so steht zu befürchten, ziemlich wahr. Und gar nicht so selten.

Jörg Königsdorf

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