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Kultur: Die große Gaukelei

Madrid feiert die Fotografie in all ihren Aspekten: das Festival „Photo España 2011“

Um die Anerkennung als Kunst muss die Fotografie nicht mehr buhlen. Gefahr droht ihr von ganz anderer Seite. Die Digitalisierung hat neue Möglichkeiten der Bearbeitung eröffnet, die ihren Anspruch auf die Wiedergabe der Realität untergraben. Es war genau dieser Anspruch, die physisch fassbare Wirklichkeit abzubilden, dem die Fotografie ihren Siegeszug seit Mitte des 19. Jahrhunderts verdankte.

Damit geht es zu Ende. Der Zweifel des Betrachters hat sogar die Reporterfotografie erreicht. Im Internet kursieren unzählige Fälschungen, zuletzt das vermeintliche Bild des toten Osama bin Laden. Und doch ist die Faszination ungebrochen, die von Augenblicksaufnahmen ausgeht. Das Gefühl, Augenzeuge eines räumlich und zeitlich entfernten Geschehens zu sein, ergreift uns immer wieder.

In diesem Zwiespalt steckt das diesjährige Festival „Photo España 2011“, das unter dem Generalthema „Interfaces. Portraiture and Communication“ 68 Ausstellungen in fast allen öffentlichen Ausstellungseinrichtungen Madrids vereint. Die Doppelbedeutung von „Interface“ als wechselseitige Wahrnehmung wie auch als Schnittstelle zwischen Mensch und Apparat lässt erahnen, dass es dem künstlerischen Leiter Gerardo Mosquera nicht allein um die Präsentation von Aufnahmen, sondern zugleich um die Repräsentation des Subjekts geht.

Zum 14. Mal findet das Madrider Festival in diesem Jahr statt. Was den Umfang betrifft und die Besucherzahl von 700 000, hat es ältere Vorbilder wie das im südfranzösischen Arles überrundet. Außerdem beweist es, dass die Zurschaustellung von Fotos gegenüber der Allverfügbarkeit des Internets immer noch zieht.

Zwischen Schnappschuss und Inszenierung oszillieren die Bilder der Ausstellungen, die Mosquera ins Programm genommen hat. Als gebürtigem Kubaner ist ihm die Spannweite dessen geläufig, was mit Fotografie zu sagen oder auch vorzugaukeln ist. Beides geht zusammen in der Ausstellung „Face Contact“ im unterirdischen Kulturzentrum Fernán Gómez. Bei der Feier ihres 15. Geburtstags geben kubanischen Mädchen auf Fotos ihren Träumen märchenhaften Ausdruck. Sie wollen schön sein, inszenieren sich, und wenn dann ein Veteran der Revolution im verblassten Uniformhemd dabei steht, dann fallen Traum und Wirklichkeit in eins. Ganz und gar inszeniert sind die Bilder mexikanischer Arbeitsmigranten in New York, die ihre Arbeit im Superman-Kostüm verrichten – Allmachtsfantasie oder Sinnbild der ökonomischen Bedeutung, die sie für die Familien in Mexiko haben?

Wie eine Beschwörung der guten alten Reportagefotografie wirken gleich zwei Ausstellungen, die die Arbeiten von einem der bedeutendsten Paparazzi der sechziger bis achtziger Jahre, Ron Galella, zeigen. Jackie Onassis im Central Park, Marlon Brando auf der Straße, Popstars im Club 54. Das ist die „Beute“ des inzwischen 78-jährigen Galella, über die er in Madrid pointenreich plaudert, stolz darauf, als Fotograf und nicht länger als Wegelagerer wahrgenommen zu werden.

Nur: Ist das Fotografie oder doch nur Knipserei? Bei Galella kommt es zwar auf den richtigen Moment an, etwa wenn Jackie Onassis auf seiner wohl berühmtesten Aufnahme ihr „Mona-Lisa-Lächeln“ zeigt. Doch wie viel mehr aus dem moment décisif zu gewinnen ist, zeigt die Retrospektive von JacquesHenri Lartigue (1894 - 1986) im Caixa Forum. Lartigue hat als Gentleman-Fotograf den Zeitvertreib der französischen Oberschicht zwischen 1900 und dem Zweiten Weltkrieg in verblüffend komponierten Bildern festgehalten, unglaubliche 200 000 an der Zahl.

Was Kurator Mosquera im Sinn hat, demonstriert er mit der Gegenüberstellung von Thomas Ruff und Cindy Sherman in der Fundación Telefonica. Hier die großformatigen Portraits, die jeden Abgebildeten auf eine bloß graduelle Variation einer Art Einheitsgesicht reduzieren, dort die Rollen, in die Cindy Sherman – mittlerweile die höchstbezahlte Fotokünstlerin der Welt – seit Jahrzehnten schlüpft, ob als Filmstar oder Fahrgast im Nahverkehr. Einmal ist es die Kamera, die den Portraitierten zum bloßen Objekt zurechtstutzt, das andere Mal ein Individuum, das aus sich eine Vielzahl von Subjekten macht.

Und doch ist es die schnöde Wirklichkeit, die über solch hochartifizielle Künstlichkeit siegt. Im wenig einladenden Museum der Stadt Madrid hat die Bukarester Kuratorin Oana Tanase eine Auswahl rumänischer Fotografen versammelt, die bereits zu Zeiten der Ceausescu-Diktatur tätig waren. Aufnahmen von 1975 sind da zu sehen, die auch die im Sozialismus ganz unten angesiedelten Roma auf wilden Müllkippen zeigen. Sie verteidigen ihre Würde gegen die aufdringliche Fotografie mit dem demonstrativen Zusammenhalt der Familie oder mit gezücktem Messer.

Gewaltdarstellungen dürfen nicht fehlen, der Bezug zu Lateinamerika liegt in Madrid nahe. Die Bilder aus den Favelas oder vom kolumbianischen Drogenkrieg überraschen aber nicht und ragen auch fotografische nicht heraus. Wenn Mosquera im Festivalhandbuch schreibt, die Fotografie habe einen „allgegenwärtigen Einfluss auf die Kunst und das zeitgenössische Leben“, so trifft das für die Darstellungen von Gewalt ebenso zu wie für die Abstumpfung ihr gegenüber. Selbst die Darstellung von Opfern wird ästhetisiert.

Ein echtes Ereignis wiederum ist das runde Dutzend Memorialportraits aus der ägyptischen Oase Fayum, die aus dem 3. und 4. nachchristlichen Jahrhundert stammen und im Ägyptischen Museum zelebriert werden. Sie zählen zu den frühesten realistischen Darstellungen des menschlichen Gesichts, gemalt zu Lebzeiten der Dargestellten, um ihre Gegenwart im Tode zu bewahren. Und sie sind in der Tat gegenwärtig. Neben diesen psychologisch ungemein einfühlsamen Darstellungen sehen viele Fotografien buchstäblich alt aus. Das Festival „Photo España 2011“ jedenfalls bietet eine ungeheure Fülle an Material zum Verhältnis von Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung, von Realität und Fotografie.

Nur eins fehlt: die gegen Arbeits- und Aussichtslosigkeit protestierenden jungen Leute auf der Puerta del Sol Madrids. Dort findet jene Wirklichkeit statt, der die Fotografie hinterher ist.

Bis 24. Juli, zahlreiche Ausstellungen auch länger. Informationen: www.phe.es

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