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Kultur: "Die großen Ferien": Johan van der Keukens Dokumentarfilm über den eigenen Krebs. Und über das Leben

Wie für viele Schulkinder waren auch für mich neben Weihnachten die Sommerferien der wichtigste Termin im Jahr. Sechs Wochen Freiheit, in der Erwartung unendlich.

Wie für viele Schulkinder waren auch für mich neben Weihnachten die Sommerferien der wichtigste Termin im Jahr. Sechs Wochen Freiheit, in der Erwartung unendlich. Vorher. Doch kaum hatten sie begonnen, war das Glück schon vorbei - denn nun näherte sich mit jedem morgendlichen Erwachen unaufhaltsam das Ende. Kinderleid. Und Herausforderung. Ist nicht das nicht die eigentliche Kunst des Lebens? Zu lernen, diese Drohung als genussfördernd in unsere Gefühlsökonomie einzubauen?

"De Grote Vakantie" ("Die großen Ferien") heißt der neue Film des niederländischen Filmemachers Johan van der Keuken. Ferien im engeren Sinne kommen darin nicht vor, viele Reisen schon. Und das Ferienende. Denn auch in van der Keukens Film geht es um Leid und Genuss, das Glück des Augenblicks und die Angst vor dem Ende. Um Zeit also, um Leben und Tod.

Wir alle müssen sterben. Vielen rückt der Tod manchmal sehr nah. Doch nur wenige verfügen über ein Medium, das es gestattet, uns mit dem Sterben öffentlich-privat auseinanderzusetzen und damit zugleich auch noch das künstlerische Nachleben zu sichern. 1997 schon hatte van der Keuken das Sterben seiner krebskranken Schwester mit einem Videofilm begleitet: "Letzte Worte - meine Schwester Joke (1935-1997). Kurz darauf wurde er von seinem Arzt selbst mit einer Diagnose konfrontiert, die kaum noch Hoffnung ließ: Ein Prostata-Tumor, der seine Metastasen schon überall im Körper eingenistet hatte. Was tun, wenn die bisher lässig verfügbare Lebenszeit plötzlich auf höchstens zwei weitere Frühlingserleben zusammengestutzt wird?

Vermutlich ist auch Johan van der Keuken erst einmal in Tränen ausgebrochen. Dann aber hat er getan, was er bisher auch meist und am liebsten tat in seinem Leben. Er hat die Kamera genommen, ist losgefahren und hat gefilmt. Meist unterwegs, manchmal - krankheitsbedingt - auch zu Hause. Mönche im Himalaja. Wäscherinnen am Ufer des Niger. Armenviertel in Rio. Filmfestival in Rotterdam. Die Straßen von San Francisco. Johan van der Keuken ist ein manischer Bildermacher, ein Filmender aus Notwendigkeit. Und er ist ein leidenschaftlich Reisender, einer, dem selbst das filmische Porträt seiner Heimatstadt "Amsterdam, Global Village" (1996) zum Reisefilm geriet.

Filmemachen ist Leben. Leben ist Reisen. Und van der Keukens Kamerablick ist der eines neugierigen Reisenden, dessen Leben sich mit dem derer, denen er begegnet, mindestens für ein paar intensive Augenblicke verknüpft, oft auch für mehr. Er mache improvisierten Film, so beschreibt van der Keuken seine Art des Filmemachens. Auch beim Improvisieren ist die Interaktion die Hauptsache: dass einer dem anderen auch zuhört, bevor er selbst spielt.

Sein Filmstil: fast eine Jazzimprovisation. Free Jazz, versteht sich. Seine Instrumente: die beiden Kameras, eine digital, eine analog. Am Mikrofon wird er von Ehefrau und Mitarbeiterin Noshka van der Lely begleitet. Geschnitten wird später. Es gibt lange ruhige Bögen und Soli, neugierige Schwenks aus dem Autofenster, Fast-Stille und polyphone Intermezzi. Frauen aus Burkina Faso, die stolzen Hauptes auf ihren Mopeds durch die Hauptstadt brausen. Am stärksten vielleicht die Episode, in der die Kinder eines afrikanischen Wüstendorfes sich nacheinander mit Namen vorstellen. Einhundertundfünf (so steht es im Presseheft) Menschen. Jeweils Sekunden nur. Doch in jeder dieser Sekunden wird ein anderes Leben auf dieser Erde unmittelbar gegewärtig. "Ein Mensch allein ist nichts", sagt Noshka, unser Verlangen nacheinander alles.

Lange schaut van der Keuken den Mönchen zu. Doch er bittet sie auch um Rat. Er nimmt die Kamera mit zu seinem Arzt in Utrecht, der viel lächelt, aber auch deutlich über den Tod und fehlende Heilungschancen redet. Und er nimmt uns mit zu einer Schamanen-Heilerin in Kathmandu, die mit Spiritualität und Spucke die bösen Kräfte als Kieselsteinchen aus dem Körper saugt.

Van der Keuken ist auch ein Melancholiker mit geschärftem Empfinden für die Schönheiten der Welt. Als Filmemacher hat er genug Erfahrung, um zu wissen, was wirkt und als Todkranker genug Dreistigkeit, sich vor schlichter Schönheit nicht zu fürchten. So schimmert der Flugzeugkaffee über den Wolken wie ein Bergsee. Die Kamera schwenkt über Hügelketten im Abendlicht. Und es gibt Landschaften im Nebel, die zu schön sind, um noch von dieser Welt zu sein.

"De Grote Vakantie" endet mit Schiffen und schweren Schleppern, die schattenhaft durch ein blaues Grau aneinandervorbeituckern. Der Musiker Ab Baars bläst dazu auf dem Saxophon. Man kann dabei an den Acheron denken, den antiken Grenzfluss zur Unterwelt, auch wenn es wahrscheinlich eher der Hafen von Rotterdam ist. Man kann die Schiffe als Menschen sehen, die sich auf ihren Lebenswegen begegnen. Oder als Farbmuster, als sichtbare Elementarteilchen. Manchmal flirrt da so ein Glitzerlicht wie eine herumflatternde Seele. Ist unser Leben ein großer Ferienausflug vor dem Nichts, das uns umgibt? Oder der Tod der Urlaub von den Mühen des Lebens?

Am Anfang spricht van der Keuken einmal von den "Geschichten, mit denen sich der Mensch Trost macht am Rande des Nichts". "Kunst ist, wenn der Tod nahe ist" - so war im Januar in der "taz" ein eher zynischer Text über Angelopoulos überschrieben. Dabei stimmt es doch: Kunst ist nur, weil der Tod nahe ist. Manchmal kommen Kunst und Tod ganz nah zusammen. Trost macht das nicht unbedingt. Aber manchmal, wie in und nach diesem Film, kann man dann das Leben deutlicher und bunter sehen. Für eine Weile zumindest.

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