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Kultur: Die harte Nummer

Sind Porno und Pop dasselbe? Rammstein treiben die Sexualisierung auf ihrem Album „Liebe ist für alle da“ ins Extrem

Stell dir vor, es ist Rammstein und keiner regt sich auf. Da würde es ziemlich ruhig werden. Vielleicht klappt es diesmal. Zwar hat die einzige deutschsprachige Band, die auch in Amerika große Erfolge feiert, seit vier Jahren kein neues Album gemacht, trotzdem löst die Veröffentlichung von „Liebe ist für alle da“, ihrer sechsten Studioproduktion, nicht mehr die Schockwellen aus, die frühere Wortmeldungen der sechsköpfigen Krawallrocker zu begleiten pflegten. Als habe man sich kollektiv darauf verständigt, sich diesmal nicht aus der Reserve locken zu lassen von den finster blickenden Burschen und ihren Provokationen.

Vielleicht kommt die Aufregung aber erst noch, wenn sich die verquasten Gurgelreime von Sänger Till Lindemann, die Folterfantasien und Inzestbilder im Bewusstsein gesetzt haben und die alten Reflexe greifen. Gründe gäbe es genug, eine Demarkationslinie überschritten zu sehen. Obwohl harter Sex im Rammstein’schen Œuvre nie zu kurz gekommen ist, mutet ihr Schreckenskabinett sexueller Perversionen dem Hörer diesmal viel zu. Wie ein roter Faden ziehen sich Deformationen von Lust und unersättlichem Begehren durch „Liebe ist für alle da“. Toller haben es Lindemann, die Gitarristen Paul Landers und Richard Z. Kruspe, Flake Lorenz an den Keyboards sowie Oliver Riedel und Christoph Schneider an Bass und Schlagzeug jedenfalls nie getrieben. Für die Vorabsingle „Pussy“ drehten sie in einem Berliner Bordell ein Pornovideo, das die Bundesprüfstelle sogleich indizierte. Nun geistert eine abgeschwächte Version als Softpornoimitat durchs Internet.

Das ist in Sachen Skandal zumindest ein Teilerfolg der ostdeutschen Spaßguerilla. Denn natürlich soll die Verschränkung von Popsong und Pornoästhetik vor allem lustig sein. „Wir merken oft gar nicht, wo wir eine Grenze übertreten“, verteidigt Gitarrist Paul Landers den naiven Geist des Unternehmens Rammstein, dieser Männerbande unreifer Wüteriche. Oder ist es einfach nur eine dümmliche Ausrede? „Ich bin der Meinung“, sagt Landers, „dass man alles ausprobiert haben muss, sonst kann man nicht mitreden. Die Band selbst will so etwas von uns. Die macht mit uns, was wir als Einzelne in der Form gar nicht gewollt hätten, so dass wir einen Pornoclip drehen und ich danach so tue, als sei das ganz normal.“

Dass Porno und Pop Geschwister im Geiste sind, will uns auch die amerikanische Schauspielerin und Musikerin Sasha Grey weismachen. Porno sei Teil der Popkultur, lässt die 21-jährige Pornodarstellerin mit Hollywood-Ambitionen vor Wochen in einem „Spiegel“-Interview verlauten. „Im Pop ging es immer um Tabubruch und das Spiel mit dem Verbotenen, Verruchten.“ Was kann verruchter sein als Pornografie, fragt Grey und folgert, dass sie „in Zukunft mehr und mehr als Bestandteil der Unterhaltungsindustrie akzeptiert“ werde. Dass die 13-Milliarden-Dollar-Industrie längst über ein Nischendasein hinausgelangt ist, hat mit der freien Verfügbarkeit von Sexdarstellungen im Internet zu tun. Ungehemmt stellen Privatleute heute kleine Filmchen ins Netz, in denen sie obskurste Geschlechtspraktiken demonstrieren und sich häufig wie professionelle Akteure gebärden. Da liegt der Gedanke auch für eine Machoband wie Rammstein nicht mehr fern, nacktes Fleisch demonstrativ zur Schau zu stellen und auch vor dem Geschlechtsakt nicht zurückzuschrecken, getreu der Liedzeile „You’ve got a pussy I got a dick ah / So what’s the problem let’s do it quick“.

Was hat das mit Pop zu tun? Berechtigt die Tatsache, dass die Sexualisierung der eigenen Person von Pin-up-Girl Betty Page über David Bowie, die Slits, Prince und „Baywatch“-Stripperin Pamela Anderson bis zu Beth Dito ein gängiges Stilmittel in der Popkultur waren, nun zu der Ansicht, im Prinzip sei doch sowieso alles Pornografie? Mitnichten. Und Rammstein sind ein gutes Beispiel für das grassierende Missverständnis einer an Gegnern arm gewordenen Jugendkultur, die sich den Kitzel des Verbotenen nun aus der vermeintlich letzten Bastion des Werteverfalls borgt. Als könne ein gewisses vulgärgeschlechtliches Getue die Unruhe stiften, die den subkulturellen Dissidenzmodellen verloren gegangen ist.

Vorreiter dieser Entwicklung war Hip-Hop. Nicht nur ließen Rapper in den Neunzigern eine ganze Phalanx praller, unverhüllter Hintern durch ihre Videos defilieren. Ihre Hüftschwünge imitierten Sex so deutlich, dass ihre Herkunft aus der Pornoindustrie oft nur halbherzig kaschiert wurde. Wer wie Snoop Doggy Dogg tatsächlich Ausflüge ins Pornogeschäft unternahm, war von seiner Potenz so überzeugt, wie es die zahllosen EgoReime ohnehin suggerierten.

Hip-Hop-Nummern wie Kool Keiths „Lick My Ass“, „Pawn Star“ von De La Soul oder Lil’ Kims „Custome Made (Give It To You)“ arbeiten das mechanische Gestöhne aus Hardcorepornos ein, weil sie wie Funksignale aus einer kuriosen, abseitigen Welt wirken. Dennoch ist der zugespitzte Materialismus der schwarzen Rapper, die mit Dollars um sich schmeißen, dicke Autos fahren und auf dem Rücksitz heiße Mädchen vögeln, immer nur Fassade. Es geht um einen Traum von Reichtum, der Ghettokids wie ihnen immer nur versprochen, aber selten eingelöst wird. Pop öffnet imaginäre Räume und Rollenmuster, Porno schließt sie.

Rammstein haben nie an die Versprechen des Materialismus geglaubt. Ihre Musik erzählt nicht von der Sehnsucht, etwas besitzen zu wollen, weil es einem versprochen ist. In der Nachfolge der schwarzen Pädagogik raten sie jedem, bloß nichts vom Leben zu erwarten, sondern es sich einfach zu nehmen – wie der Triebtäter im Titelsong „Liebe ist für alle da“, der manisch seinen mörderischen Traumgebilden folgt. In „Pussy“ werden Frauen ganz unverhohlen zum Schlachtfeld erklärt („Blitzkrieg mit dem Fleischgewehr“), „Ich tu dir weh“ erzählt von Sado-Maso- Praktiken, „Wiener Blut“ fantasiert sich in den Folterkeller von Josef Fritzl in Amstetten, der mit seine Tochter mehrere Kinder zeugte. Es gibt Kirchenchöre, Waldhörner und balladeskere Töne, doch im Allgemeinen meint man dem Schmatzen einer Metal-Maschinerie zuzuhören.

Was bleibt von dieser Band, wenn man die Provokation ausblendet? Ein martialisch-monotones Postulat der Härte mit Märchenlyrik. Ein Kinderspaß.

Rammsteins „Liebe ist für alle da“ ist bei Universal erschienen.

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