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Kultur: Die Intimität des Alltags

"Emotions & Relations" - Amerikanische Fotografie in der Hamburger KunsthalleVON MICHAEL ZÖLLNERBobby beim Masturbieren, Nan, nachdem ihr Freund sie verprügelt hat, Cookie auf dem Klo, Marks Gekritzel in seinem Tagebuch ("Do you want a blow-job, oops, I mean a drink?") und Chris, Roy, Eddie und die anderen Stricher aus Los Angeles, die alle weniger als 50 Dollar gekostet haben.

"Emotions & Relations" - Amerikanische Fotografie in der Hamburger KunsthalleVON MICHAEL ZÖLLNERBobby beim Masturbieren, Nan, nachdem ihr Freund sie verprügelt hat, Cookie auf dem Klo, Marks Gekritzel in seinem Tagebuch ("Do you want a blow-job, oops, I mean a drink?") und Chris, Roy, Eddie und die anderen Stricher aus Los Angeles, die alle weniger als 50 Dollar gekostet haben.Ihre Geschichten, ihre intimsten Details - alles dokumentiert von Nan Goldin, Mark Morrisroe, Jack Pierson, David Armstrong und Philip-Lorca diCorcia. Unter dem Titel "Emotions & Relations" zeigt die Hamburger Kunsthalle erstmalig in Deutschland die Arbeiten der fünf Fotografen in einer gemeinsamen Schau.Zusammen studierten sie in den siebziger und achtziger Jahren an der Boston School of the Museum of Fine Arts; allein Jack Pierson kam vom Massachusetts College of Art.Nach wie vor werden sie zwar unter dem Begriff "Boston School" geführt, gemeinsame Inhalte und Konzepte sucht man allerdings vergeblich.Denn ihre Arbeit ist nicht durch einen bestimmten Stil geprägt, sondern überzeugt durch Individualität.Gruppenausstellungen betonen aber meist banale Parallelen.Der Umgang mit Emotionalität und Beziehungen, mit Intimität, Alltag und Freundschaft erscheint hier als gemeinsamer Nenner.Dies ist zwar zutreffend, ihre inhaltliche wie formale Umsetzung allerdings differiert. So verstand Mark Morrisroe, der 1989 an Aids verstarb und den im letzten Jahr die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Berlin) mit einer Retrospektive bedachte, unter Intimität vordringlich seine eigene Sexualität.Fokus seines Schaffens war neben dem Porträtieren von Freunden sein eigener Körper.Mit zunehmender Erkrankung trennte er sich von der eitlen Selbstdarstellung.Daß er neben seiner Schönheit auch den physischen Verfall dokumentierte, ist eine besondere Qualität seiner Arbeit.In seinem Polaroid-Tagebuch, das er bereits 1977 begann, verfolgt er die Veränderungen seines Körpers bis zu seinem Tod. Wie Morrisroe, der von allen formal wie inhaltlich die größte Variationsbreite aufweist, konzentriert sich Nan Goldin auf die Darstellung des Privaten.Sie versteht ihr Werk als ein visuelles Tagebuch, die Kamera als eine Erweiterung ihres Körpers.Ihre Biographie ist dabei Ursprung und Gegenstand ihrer Kunst.In eindringlichen Aufnahmen begleitet sie ihren Freundeskreis, ihre family.Nan Goldin inszeniert und bearbeitet ihre Fotos im Gegensatz zu Morrisroe nicht, sondern fotografiert natürliche und alltägliche Situationen.Die Familie tritt dabei als Partygemeinschaft auf, die nur für den Augenblick lebt, teilweise ein hartes Erwachen erfährt und zunehmend zu einer Gruppe ernüchterter Übriggebliebener mutiert.Fälschlich könnte dies mit Exhibitionismus gleichgesetzt werden.Doch ihre balladenhaften Bilder brechen durch ihre Intimität jede Distanz zum Betrachter, wodurch das fremde Leben und seine Emotionalität zur Metapher für Menschlichkeit wird. David Armstrong beschränkt sich dagegen in seinen Schwarzweiß-Fotografien auf die dargestellten Personen.In seinen an die klassischen Film-Porträts der vierziger Jahre erinnernden Arbeiten erscheint er selber nicht, sondern begnügt sich mit der reinen Beobachtung anderer.Was bei Nan Goldin in starker Geste und mit Authentizität ausgedrückt wird, tritt bei ihm - wenn überhaupt - nur als Andeutung hervor.Intimität läßt sich nur in der Mimik erahnen, Vertrautheit nur durch die Wärme und Romantik der Bilder dechiffrieren.Armstrongs zurückhaltende Arbeiten bilden einen starken Kontrast zu den obsessiven Fotografien der anderen Künstler. Der Sensibilität seiner Bilder stehen die "heavily glamourized" Aufnahmen von Jack Pierson gegenüber: Knallbunte Porträts, Foto-Collagen und Stilleben, zum teil über- oder unterbelichtet, unscharf und verschwommen, schwankend zwischen kalifornischer Porno- und Werbeästhetik.Pierson spielt mit Farbe und Überhöhung.Auf seinen Fotos ist alles glamourös, selbst eine Flasche Spülmittel oder eine öde Landschaft.Der sehr filmische Code ist so vertraut, daß man meint, in seinen Aufnahmen bald auf Elizabeth Taylor zu stoßen. Solche Erwartungen hegt man bei den eindrucksvollen Arbeiten von Philip-Lorca diCorcia keineswegs.Die kühl und sehr genau inszenierte Hustler-Serie, in der er Stricher aus L.A.abbildet, birgt eine gespielte und bezahlte Intimität in sich.Gefühle scheinen erstarrt und die Wirklichkeit nur eine Fiktion zu sein.Mit Namen, Ort und Preisangabe der Modelle bricht diCorcia den fiktionalen Charakter, wodurch der Betrachter ständig zwischen Bildkomposition und Inhalt schwankt. Die Bedeutung der Fotografen ist evident.So läßt sich an den Exponaten der Ausstellung nicht nur die Entwicklung der einzelnen Künstler, sondern auch die der zeitgenössischen amerikanischen Fotografie beobachten.Die fünf Künstler gingen in der Dokumentarfotografie neue Wege und konstituierten subjektive Formen.Die eigene Lebenswelt und die Banalitäten des Alltags machten sie zum Zentrum ihrer Arbeit.Zudem befaßten sie sich mit Themen, von denen etablierte Galeristen lange nichts wissen wollten: Homosexualität, Drogen, Aids.Auch in Deutschland hat ihr Stil zunehmend an Einfluß gewonnen, wie sich an Wolfgang Tillmanns Arbeiten veranschaulicht. Die amerikanische Modefotografie ist längst auf die visuelle Kraft der Bilder aufmerksam geworden und kopiert gnadenlos ihren Stil.Seitdem taucht der Vorwurf gegenüber Nan Goldin auf, sie habe den Heroin-Chic der Modewelt eingeläutet und die Schmuddel-Ästhetik zeitgenössischer Werbung geprägt.Was auch immer von dieser Art der Reklame zu halten ist, daß sich die Werbung ihrer bedient, ist nur konsequent.Denn die Einflüsse anderer Medien sind auch bei den fünf Fotografen offensichtlich.So übernehmen sie filmische und musikalische Codes in ihrer Arbeit.In unkonventioneller und sehr subjektiver Weise offenbaren sie dadurch die Befindlichkeit der amerikanischen Gesellschaft der letzten Jahre.Und dies scheint auch kein Ende zu nehmen, denn insbesondere Nan Goldin versteht ihr sich ständig erweiterndes, visuelles Tagebuch als work in progress. Kunsthalle Hamburg, bis 1.Juni; Katalog (Taschen Verlag) 29,95 Mark.

MICHAEL ZÖLLNER

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