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Kultur: Die kleinen Prinzen

„Deutschland, ein Sommermärchen“: Sönke Wortmann hat die Nationalelf durch die WM begleitet

Unter uns Bildungsbürgern: Der große cineastische Komplementärwurf zu Heinrich Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“ ist Sönke Wortmanns Film nicht. War jenes Versepos der garstige Verriss eines zeitweiligen Heimkehrers, ist „Deutschland. Ein Sommermärchen“ nicht jene Hymne auf unser wunderbar ausgeflipptes Land im Frühsommer ’06, die der Titel vielleicht erwarten ließe. Der Film erklärt nicht, warum Deutschland so verzaubert war, und zeigt auch nur am Rande, wie verzaubert es war. Und er hütet sich, deuten zu wollen, wie dieses sonst gern wintergriesgrämige Land plötzlich selber alle Welt zu verzaubern imstande war – eine Nation aus Dutzenden von Nationalitäten, die sich auch als Nummer drei feiern konnte, von einem wunderbar fröhlichen Fieber namens Fußball ergriffen.

Das große Familienalbum der Deutschen aus jenen Sommertag- und nachtträumen also ist der Film nicht geworden. Aber das macht überhaupt nichts – wahrscheinlich lagert diese aus tausenderlei Details bestehende gigantische Doku ohnehin auf ewig ungeschnitten im kollektiven Erinnerungsschatz. Wortmann hat stattdessen das offizielle Homevideo der Nationalmannschaft gedreht, ein mal mitreißendes, mal ein bisschen auf der Stelle tretendes, oft lustiges, immer wieder erhellendes und mitunter heftig bewegendes Dokument – mehr kann sich eine Nation zum gemeinschaftlich erwärmend-erheiternden herbstlichen Kino-Nachsitzen kaum wünschen. Und ihm ist es, davon zeugen nicht nur Lobreden aller Beteiligten, tatsächlich gelungen, sich mit seiner Digicam mitten im wachsenden Stress des Ereignisses so unsichtbar wie möglich zu machen: Wortmann, der Ex-Fußballer (bei der Spielvereinigung Erkenschwick), der mit „Das Wunder von Bern“ (2003) das fußballfilmische Empfehlungswerk par excellence und mit seinem Dreh beim Confed-Cup 2005 einen überzeugenden einstündigen Probefilm vorgelegt hatte.

Das „Sommermärchen“, immer nah, aber nie zu nah an seinen Akteuren (meist führt Wortmann selbst die Kamera, für Außenaufnahmen kam Frank Griebe hinzu), funktioniert überwiegend chronologisch – mit der klügsten, sensibelsten Ausnahme gleich zu Beginn. Die ersten, unendlich langen Sekunden zeigen aus der Innensicht der Mannschaft den auch aus jeder Fan-Chronologie dieser WM für immer herausfallenden Schock, als der Doppelschlag der Italiener alle deutschen Finalträume zunichte machte. Lähmung. Schweigen. Vereinzelung. Stille in der Kabine. Viel später kommt der Film auf diesen traumatischen Moment zurück, bettet ihn ein in das insgesamt charismatische Geschehen – und löst die Vereinzelung durch Trainertrost und rekapitulierende Spielererinnerung in Ansätzen auf.

Doch nur für die Fans ging das Sommermärchen bis zum finalen Bälleschießen am Brandenburger Tor weiter – sehr fein zeigt Wortmann dagegen den Riss, der nach dem entscheidenden sportlichen Aus durch die Mannschaft ging. Prägnantestes Beispiel: Fast zögernd und einzeln treten die Spieler vorm Kleinen Finale gegen Portugal ans Stuttgarter Hotelfenster, wo sie eine Menschenmenge feiert. Für einen Augenblick, es ist vielleicht das kleine Wunder von Stuttgart, wird gerade aus der Kulisse physisch erlebbar, wie die enthusiastischen Fans die Spieler mit sich selbst versöhnen.

Vorher: der niemals indiskrete Schlüssellochblick. Die kleinen, hochbezahlten Gladiatorenprinzen und ihr heiteres Bespielen der preußischen Festung namens Grunewalder Schlosshotel (mit Bastian Schweinsteiger in der Hauptrolle des Klassenclowns, am unfreiwillig überzeugendsten, wenn er das Wort „Philosophie“ auszusprechen sucht). Die semiprivaten Augenblicke auf den Knet- und Streckbänken (erfreutes weibliches Aufraunen bei der Pressevorführung!). Klinsmanns ulkiger Schrei beim Tischtennis – und sein sehr gefühltes Alleinsein in der Kabine unter den langsam hinausgehenden Spielern, wenn alles gesagt ist. Der historische Glückwunsch von Kahn: vielleicht doch nur eine Geste, durch keinerlei anderweitige Wärme abgefedert. Und so fort. In seinen zahlreichen starken Momenten schärft der Film die kollektive Erinnerung, indem er sie aus notwendig anderer Perspektive umformt, ohne sie zu zerstören.

Nun hat Sönke Wortmann das Genre des weltmeisterlichen Nachbereitungsdokumentarfußballfilms nicht erfunden, sondern sich, formal verblüffend treu, an Stéphane Meuniers „Les yeux dans les bleus“ (1998) gehalten. Gerade wegen der Parallelen – viel Alltag abseits der Spiele, Einschwör- und Einpeitschrituale der Trainer vorneweg und Halbzeitimpressionen aus der Kabine, während von den Spielen selber nur die Top-Torszenen in musikuntermalter Zeitlupe zwischengeblendet werden – lohnt der Blick auf signifikant Abweichendes. Kann es sein, dass die Franzosen, damals WMGastgeber und spätere Weltmeister, sich schon im Anlauf abseits der „Arbeit“ insgesamt mehr gefreut haben – symbolisiert etwa durch eigene postviktoriale Hüpfgrölsongs in der Kabine statt der doch sehr sedierenden deutschen Xavier-Naidoo-Melancholie? Und warum musste Klinsmanns Wortwahl bei der Charakterisierung der Gegner mitunter fast brutalstmöglich sein – wenn der Appell an eigene Spielerqualitäten ebenso zum Erfolg führen kann, wie der französische Trainer Aimé Jacquet es beispielhaft vorführt?

Egal. Das Sommermärchen bleibt. Das Märchen eines Landes, das nicht bloß „wieder wer“ ist wie damals nach dem Sieg von Bern, sondern sich sogar leisten konnte, nicht alle anderen als Verlierer nach Hause zu schicken. Und sich trotzdem freute, und wie. Ein Märchen, das ein paar Wochen Wirklichkeit war.

„Deutschland. Ein Sommermärchen“, ab Donnerstag im Kino. „Les yeux dans les bleus“ läuft, Englisch untertitelt, im Central.

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