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Bundespräsident Joachim Gauck überreicht den Ministern der großen Koalition am 17. Dezember ihre Ernennungsurkunden.

© picture alliance / dpa

Die Koalition als Modell: Familienaufstellung

Ist sie nun Zwillingspaarung, Zwangsehe oder Zweckgemeinschaft? „Mutti“ Merkel, Sigmar Gabriel als der ewige jüngere Bruder, Steinmeier in der Onkelrolle: Nachdenken über die „GroKo“.

Von Caroline Fetscher

Alles wird gut. Alles ist ruhig. Auch wenn Deutschlands Regierungsoberhaupt sich für ein paar Wochen mit Gehhilfen vorwärtsbewegt – ob Angela Merkel nun läuft, steht, sitzt oder liegt, Hauptsache, sie ist einfach da, als supraparteiliche Figur an der abgeflachten Spitze der Republik. Sie muss gar nicht in Flugzeuge steigen, zu den Polen oder sonst wem reisen.

Zu den Kernmerkmalen der Kanzlerin zählt das Einfachdasein ebenso wie der bewusst schlichte Wortschatz, die weitgehend auf Nebensätze verzichtende Sparsprache, der beruhigende Erzählton, die gleich bleibende Stimmlage. Daran ändert sich gar nichts, auch nicht mit dem Kabinett Merkel III – die Queen bleibt die Queen, eine harmlose konstitutionelle Monarchin, an die sich alle gewöhnt haben.

Selbst manche von denen, die weder Merkel noch ihre Partei jemals gewählt haben, geben zu, dass sie erschrocken waren, als es in den Medien hieß, gleich werde man mehr „zum Gesundheitszustand der Kanzlerin“ erfahren. Oje, was ist denn passiert, dachten sie und hatten vielleicht auch den verunglückten Rennfahrer im Sinn. Aber nichts ist passiert, gar nichts. Als sei Angela Merkel der Garant eines immerwährenden Status quo, dümpelt das Land vor sich hin, freut oder sorgt sich über den milden Winter und schafft sich allenfalls ein paar Scheinaufregungen über Eindringlinge von außen, die unser schönes Sozialsystem missbrauchen wollen.

Politisch passiert in diesen Zeiten allerdings derart viel Erstaunliches, dass Deuter und Auguren kaum noch hinterherkommen. Wertkonservative Parteien haben während der eben zu Ende gegangenen Legislaturperiode die Wehrpflicht abgeschafft, und in der neuen wurde eine Frau aus ihren Reihen als Verteidigungsministerin aufgestellt. Freiwillig lösten sich dieselben Parteien von einem ihrer abergläubisch gehüteten Fetische, der Atomkraft, und das ohne Druck von Missionaren, wie sie einst bei den „Wilden“ für das Ablegen von Fetischen und Aberglauben zuständig waren. Aus den Reihen derselben Parteien rekrutierte man einen schwulen Außenminister und hörte Signale zur Anerkennung der Homoehe. Und Jahr um Jahr regiert eine geschiedene, protestantische, ostdeutsche Pfarrerstochter und Physikerin das Land. Wer all das vor 20, 30 Jahren vorausgesagt hätte, wäre nirgends auch nur an den kleinsten akademischen oder politischen Posten gelangt.

In ihrer Irritation über so viel neu gewonnenen Spielraum auf einer öffentlichen Bühne, die keine festen Ränder mehr zu haben scheint und auf der die Darsteller verwirrend rasch die Rollen und Genres wechseln, greifen Kommentatoren gern auf biologistische Bilder zurück.

Die große Koalition ähnele ununterscheidbaren zweieiigen Zwillingen, die miteinander regieren, lautete ein lustiger Vergleich, der freilich so enthistorisierend wirkt, wie er unzutreffend ist. Denn anders als Zwillinge haben die beiden Koalitionäre weder dieselben Eltern, noch wurden sie zur selben Zeit geboren. Vielmehr ist das Phänomen, das die deutsche Politik und deren Kommentatoren erleben, das einer schleichenden, unaufhaltsamen Skandinavisierung. In den Ländern Nordeuropas gibt es schon seit Jahrzehnten nur noch die Wahl zwischen Varianten der Sozialdemokratie.

Zugleich wachsen in ganz Europa, diesem sensationellen makropolitischen Patchwork, die ökonomischen und technischen Interdependenzen. Sie lassen die Insignien des Nationalstaats mehr und mehr zu symbolischen Wappen werden, die zwar unverdrossen ausgehängt werden, deren einstiger Inhalt – Souveränität, Autonomie, Herrschaft – aber obsolet wird. Gigantische Transformationen, innen wie außen, bestimmen die Gegenwart. Zum Teil sind sie uns bewusst. Das Unbewusste aber, worin sich vergangene Repräsentationen beharrlich manifestieren, braucht stets länger, um Veränderungen zu akzeptieren. Ihm assistiert nun die Illusion des Status quo, um schmerzfreier in den neuen Zustand zu wechseln.

Was also bedeutet die Kürzelschöpfung „GroKo“? Was erzählen die Deutschen sich damit? Mit „GroKo“ werden zunächst die zwei Teile der neuen Koalition aus Schwarz und Rot in eins gegossen, weniger zwillingshaft als in Anspielung auf eine Paarung, etwa so, wie für Brad Pitt und Angelina Jolie die alberne Bezeichnung „Brangelina“ verwendet wird. Noch allerdings ist das Wesen der „GroKo“ rätselhaft. Ist sie nun Großfamilie, Zwangsehe, Scheinehe, Zweckehe oder „das große Kotzen“, wie die informelle Straßenrede behauptet?

Sie scheint vor allem die Metapher für eine Patchworkfamilie zu sein, die vieles von der Dynamik spiegelt, wie sie in der Gesamtgesellschaft am Werk ist und in Europa. Epochen der Umbrüche und Krisen profitieren von großen Kompromissbildungen – und von einer vermeintlich grundstabilen Mutterimago. In der aktuellen Patchworkfamilie gibt es als Oberhaupt nur sie, die quasi alleinerziehende „Mutti“. Sigmar Gabriel (SPD), auch wenn er sein Töchterchen noch so oft vom Kindergarten abholt, wird sich kaum als „Vati“ der Nation auf Augenhöhe mit „Mutti“ Merkel etablieren. Eher nimmt der Vizekanzler, Wirtschafts- und Energieminister die Rolle des ewigen jüngeren Bruders ein, der wacker sein eigenes Feld zu bestellen beginnt. Wenn überhaupt ein Vati-Surrogat in Sicht ist, dann in Gestalt des die Onkelrolle einnehmenden Außenministers Frank-Walter Steinmeier (SPD). Dessen freundlich-korrekter Umgang mit Bürokratie und Diplomatie ist allerdings eher von der Position des teilnehmenden Beobachters geprägt.

Kleiner Bruder und Onkel haben es mit der ambitionierten, tendenziell über die Stränge schlagenden großen Schwester und Nichte Andrea Nahles zu tun, die als Ministerin für Arbeit und Soziales eine unberechenbare Größe sein könnte. Ganz anders die brave kleine Schwester Manuela Schwesig, der man zutraut, im Familienministerium sauber die Ablage zu erledigen. Womöglich vom Jugendamt geschickt wurde Justizminister Heiko Maas, 47, der besondere Aufgaben wie die Vorratsdatenspeicherung besonders ernst nehmen muss, um zu beweisen, dass er dazugehört und gehört werden muss.

Selbst auf Krücken sorgt die Kanzlerin für die Stabilität der Nation.
Selbst auf Krücken sorgt die Kanzlerin für die Stabilität der Nation.

© REUTERS

Um die Mutterfigur gruppieren sich männliche Patchworkfamilien-Mitglieder aus dem Stall der CDU. Innenminister Thomas de Maizière, der gute alte Schwager mit dem Laden um die Ecke, in dem es alles gibt und wo alles repariert werden kann: Er war schon mal Innenminister, war Ministerminister, Verteidigungsminister und hat auch schon mal was in den Sand gesetzt (siehe: Drohne!). Ihn kann man immer anrufen, so einer kennt sich aus. Unbeirrbar dabei ist der väterliche Freund der Mutterfigur, Finanzminister Wolfgang Schäuble: ein mit allen Wassern gewaschener echter Experte, Verantwortlicher der alten Schule. Dass er das Amt ernst nimmt – es geht um die Kasse! –, qualifiziert ihn. Ihn anzurufen, wird man sich zweimal überlegen, der Mann hat richtig zu tun. Nur noch Landwirtschaftsminister ist jetzt Hans-Peter Friedrich, zuvor zuständig für die Innere Sicherheit: ein Angeheirateter aus der CSU, dessen Verwandtschaftsgrad mitunter unklar ist. Irgendwie zählt er dazu, bloß wie? Na ja, vielleicht geht er auch wieder.

Reale Mutter mit gleich sieben Kindern ist Ursula von der Leyen, auf die ein Spitzname wie „Mutti“ gleichwohl nie zutreffen wird. Zu präzise, alert und professionell tritt sie auf, Typus Superwoman aus der Chefetage. Wie kam die denn in unsere Familie, hochbegabt und dabei so feministisch, als hätte Alice Schwarzer sie erfunden!? Sieben Kinder, eine Zahl wie aus dem Märchen – das leisten sich heute nur noch die Milieus der sehr Wohlhabenden mit viel Personal oder der sehr Wenighabenden und Empfänger von Transferleistungen.

Es dürfte der Ministerin nichts anderes übrig bleiben, als zumindest einige ihrer Kinder ins Freiwilligenheer zu entsenden, auf ihr lasten Amts- wie Gruppendruck. Die Familienforscherin Gisela Erler sagte dem „Zeit“-Magazin 2004 über die damalige Familienministerin: „Was glauben Sie, wie viele Männer gerade bei der CDU denken: Hilfe, wenn die Leyen meine Frau wäre – würde ich so was wollen?“

So ähnlich geht es jetzt vielen Bürgerinnen und Bürgern im Land mit allerhand Themen und Fragen: Hilfe, wenn Deutschland jetzt wirklich in Europa aufgeht, wenn die Loyalität mit den EU-Partnern tatsächlich Realität wird, wenn jetzt wahrhaftig immer mehr Migranten kommen, wenn die Renten sinken, wenn der Strom teurer wird, wenn ich, nach meiner Bürgermeinung befragt, dauernd mitmachen soll – will ich das alles? Ganz gleich, wie bang die Frage gestellt wird – von Patchwork zu Patchwork werden auch künftige Koalitionen sich sozial und demokratisch durch die Phasen der Transformation hangeln müssen. Ein Zurück zur „heilen Familie“ mit ihren Korsetten und Täuschungen, ein Zurück zum autokratischen Vater Staat, zur egoistischen Nation, zum klassischen Patriarchat wird es nicht geben. Wir sind, Hand in Hand mit Europa, im postmodernen Patchwork angekommen. So unübersichtlich ist es gar nicht.

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