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Kultur: Die Königin geht – es lebe die Königin

Seit Jahrzehnten prägt sie Berlins Kulturszene: Am Sonntag wird Nele Hertling als Intendantin des Hebbel-Theaters verabschiedet

Nein, früher war nicht alles besser. Man war nur jünger, und die Menschen, mit denen man zu tun hatte, waren es in der Regel ebenso. Und natürlich gilt auch, was Bob Dylan vor langer Zeit dichtete: Damals, da war ich viel älter, als ich heute bin. Die tiefe Weisheit dieses Satzes geht einem in diesen Tagen auf, da eine allgemeine Retro-Welle durch Deutschland schwappt. Unvermeidlich setzt sich eine seltsam futuristische und zugleich antiquierte Zeitmaschine in Gang, wenn man erzählen will, was der Abschied der Berliner Theaterintendantin und Festivalchefin Nele Hertling nicht nur für Berlin bedeutet. Es ist eine exemplarische kulturpolitische Geschichte.

Zunächst: Die 69-Jährige hört ja nicht wirklich auf, wenn sie am Sonntag mit einer Party im Hebbel-Theater verabschiedet wird. Sie gibt nur jene harten Posten ab, die sie anderthalb Jahrzehnte bekleidet hat. Sie bleibt im Geschäft. Sie führt fort, worauf sie sich am besten versteht – die Kulturdiplomatie, die beratende und Strippen ziehende Tätigkeit hinter den Kulissen. Wie oft war sie als potenzielle Kultursenatorin im Gespräch! Wie oft ist sie um den Globus gereist, um Entdeckungen zu machen und in ihrem Hebbel-Theater vorzuführen! In wie vielen Gremien an den Schnittstellen von Kultur, Politik und Geld hat sie gesesssen, beim Rat für die Künste, beim Goethe-Institut, bei der Industrie, in den Networks der internationalen Festivals und experimentellen Bühnen!

Erinnern wir uns. 1988: eine magische Zahl. In jenem Jahr feiert sich der Westen Berlins, mit einer schon bröckelnden Mauer im Kopf, als „Kulturstadt Europas“. Die Geldtöpfe sind ein letztes Mal prall gefüllt. Und die Weichen für die Zukunft sind gestellt – auch wenn man vom Kommenden höchstens eine schwache Vorahnung hat. Aus heutiger Sicht muss man den Eindruck gewinnen, dass der insulare Kulturbetrieb damals das Ende der geteilten Welt antizipiert habe.

Ort des Neuen, Werkstatt Berlin und Berlin in der Mitte Europas, so heißen 1988 die Leitideen des immensen Kulturstadtprogramms – als es noch modisch und möglich war, programmatisch mit den kulturellen Ressourcen umzugehen. Im Hebbel-Theater und am Halleschen Ufer läuft eine Heiner-Müller-Werkschau, mit Inszenierungen aus Ost und West. Bei einer Podiumsdebatte über das Werk des gesamtdeutschen Dramatikers meldet sich hier erstmals ein noch eher unbekannter Regisseur aus der DDR zu Wort. Sein Name: Frank Castorf. Im Theater des Westens feiert der Europäische Filmpreis seine Premiere – Krzysztof Kieslowskis „Kurzer Film über das Töten“ wird als bester Film ausgezeichnet, kein West-Mensch kannte damals den großen polnischen Regisseur. Merce Cunningham ist der Star der internationalen Tanzwerkstatt. E 88, wie man es nannte, war eine reichlich dialektische Angelegenheit: Schlusspunkt und Anfang in einem. Der Regierende Bürgermeister hieß Eberhard Diepgen, der Kultursenator Volker Hassemer.

Das Mastermind aber war Nele Hertling. Berlins Kulturpolitik hat sich nur selten durch Konsequenz ausgezeichnet. Doch nach dem europäischen Kulturstadt-Festival sollte der Ort des Neuen zur festen Einrichtung und der Werkstatt-Gedanke weitergesponnen werden. Hertling bekam das Hebbel-Theater – damals ein leer stehendes altes Haus in Randlage mit Boulevard-Vergangenheit.

Hertling kam von der Berliner Akademie der Künste. Dort hatte sie in den Siebzigerjahren das Festival „Pantomime Musik Tanz Theater“ ins Leben gerufen – lange Zeit ein unerschöpflicher Quell der Inspiration für Publikum und Künstler. Am Hanseatenweg war sie Sekretärin – so heißen, mit schrecklich wahrem Understatement, in der Akademie die auf Lebenszeit bestellten Spartenleiter. Dieser Betrieb mit seinem unwiderstehlichen Hang zu Verkrustung und Stillstand trieb Nele Hertling ins Offene, ins Risiko. Es mag paradox klingen, aber ihr stilles, wenngleich nachhaltiges Temperament war für eine Kulturbürokratenstelle bis zur Rente nicht geschaffen. Mit ihren Ideen und Initiativen musste sie ihre eigene Chefin werden. Man ist versucht, Nele Hertling mit Ivan Nagel zu vergleichen, der anderen Eminenz der Berliner Kultur und Kulturpolitik. Doch wo Nagel mit seiner Polemik brilliert, verhält sich Hertling eher taktisch, so höflich wie stur. Sie sucht nicht den Angriff, sondern den Ausgleich – nach ihrer eigenen Façon.

Sie war schnell am Ziel. Binnen kurzer Zeit hatte Berlin mit dem Hebbel-Theater ein Zentrum der internationalen Avantgarde. Jan Fabre, die Wooster Group, Trisha Brown, Hans Jürgen Syberberg, Robert Wilson und viele andere behaupteten in diesen Anfangsjahren den „Ort des Neuen“. Dass sich seither der Begriff der Avantgarde gewandelt und womöglich ganz und gar davongemacht hat, ist nicht Nele Hertlings Schuld. Aber das Programm-Machen und Entdecken wurde sichtlich schwieriger, und die Intendantin Hertling hielt manchem Künstler, Jo Fabian etwa oder auch Syberberg, die Nibelungentreue.

In der Berliner Szene, im Tanz zumal, wurde Nele Hertlings Einfluss schier überlebensgroß. Niemand kam an der Prinzipalin vorbei. Das aus der Tanzwerkstatt von 1988 entwickelte Festival „Tanz im August“ holte Berlin auf die Landkarte der internationalen Tanzwelt zurück – während die Berliner Off-Tanzszene gelegentlich an der Allmacht der Prinzipalin verzweifelte. Nele Hertling selbst war Mitte der Neunzigerjahre am Hebbel-Theater mit einem kaum zu lösenden strukturellen Dilemma konfrontiert: mit der Schwierigkeit, ein Haus, das sich aus architektonischen Gründen kaum für den Tanz eignet, gleichsam als Dauer-Festival zu bespielen. Der Ort des Neuen setzte Patina an, und er leerte sich.

Damit sind wir wieder bei der Berliner Kulturpolitik. Ohne Nele Hertling wären die vergangenen 15 Jahre anders verlaufen. So wie Hertling immer wieder für ein politisches Amt rekrutiert werden sollte, so sinnvoll wäre es vielleicht gewesen, sie zur Berliner Festspiel-Chefin zu machen. Doch da war Ulrich Eckhardt vor. Über zwei Jahrzehnte lang hielt der Intendant der Berliner Festpiele seine Stellung, ähnlich wie Berlinale-Boss Moritz de Hadeln und andere Berliner Leitungsfiguren. Sitzfleisch erscheint nachgerade als eine Westberliner Spezialität. Dass auch Nele Hertling so lange im Amt blieb, wo sie doch stets das Neue, die Avantgarde suchte, entbehrt nicht der Ironie.

Sie hat erst spät, zu spät, loslassen können. Und im Berliner Senat dauerte es lange, ehe man sich dort überhaupt eine Vorstellung davon machen wollte, was ein Hebbel-Theater ohne Nele Hertling sein könnte. So gefährlich eng waren Haus und Person miteinander verbunden.

Das macht die Aufgabe für Matthias Lilienthal, der ja auch Hertlings Wunschkandidat für ihre Nachfolge am Hebbel-Theater ist, nicht leichter. Die Grundbedingungen, unter denen das Hebbel vor 15 Jahren ein neues Leben beginnen konnte, haben sich dramatisch verändert – hin zum Undramatischen, Egalitären. Experimentiert wird auf fast allen Bühnen – und nirgends.

Die Kulturpolitik hat ihre einst herausragende Bedeutung verloren, eine selbstverständliche Avantgarde gibt es nicht mehr, und keiner traut sich mehr ohne weiteres, von einem „Ort des Neuen“ zu sprechen; es klingt heute irgendwie naiv. Die Globalisierung der Theater-, Tanz- und Performanceszene führt auch zu einer Nivellierung des Angebots. Das bekam Nele Hertling schon zu spüren, als sie 1998 zusammen mit Maria Magdalena Schwaegermann, der langjährigen zweiten Frau am Hebbel-Theater, in Berlin das „Theater der Welt“ organisierte.

Darin liegt aber auch die Chance von Hertlings Nachfolger Matthias Lilienthal. Die Berliner Mühlen mahlen oft unendlich langsam, und nun werden, wenn er im November loslegt, das Theater am Halleschen Ufer und das kleine Theater am Ufer, wo bislang Andrej Woron zu Hause war, zum kleinen Hebbel-Imperium gehören. Endlich kann man flexibler Spielpläne gestalten: Es war schon immer ein wenig seltsam, wie sehr sich Königin Nele in ihrer Burg an der Stresemannstraße verschanzte.

Und sie hört wirklich nicht auf, wird sich ehrenamtlich um das Künstlerprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Berlin kümmern. Der DAAD war einmal eine internationale Drehscheibe für den künstlerischen, intellektuellen Austausch – damals, zu Westberliner Zeiten. Der Impresario hieß Joachim Sartorius, inzwischen Chef der Berliner Festspiele. Da schließt sich mit Nele Hertling jetzt wieder ein Kreis. Da treffen sich zwei Legenden. Und alles wird wieder so gut wie früher.

Rüdiger Schaper

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