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Kultur: Die Kultfrage

Patrice Chéreaus und Pierre Boulez’ Bayreuther Jahrhundert-„Ring“ im Kino und auf DVD

Es war, das muss man neidlos anerkennen, Wolfgang Wagners Jahrhundert- Tat – und ein handfester Theater-Skandal. Protestkundgebungen rund ums Bayreuther Festspielhaus suchten die Premiere bis zuletzt zu verhindern, die Wagner-Verbände dieser Welt lagen in kollektiver Schrecklähmung, und am Ende flogen Eier und Tomaten auf die Bühne. Aber wie das mit (manchen) Skandalen so ist: Kaum verhallt das Buhgezeter, ist das Ganze auch schon Kult. In diesem Fall, bemerkenswerterweise, bis heute.

Patrice Chéreaus und Pierre Boulez’ Bayreuther „Ring“ von 1976, den die Deutsche Grammophon nun neu auf DVD ediert hat (samt einem zauberhaft altmodischen „Making Of“), scheint in der Tat nichts von seiner Überzeugungskraft und Intensität eingebüßt zu haben. Ein Rätsel, eigentlich. Denn gemeinhin gilt die Regel, je „aktueller“ eine Inszenierung desto kürzer ihre Halbwertzeit. Genau das straft diese Aufführung mit einer Grandezza Lüge, mit einem aus der Naivität geborenen, wagnerweisen Atem, der nach wie vor seinesgleichen sucht.

Nicht von ungefähr beschleicht selbst ausgefuchste Wagnerianer bisweilen das Gefühl, es habe weder vor noch nach 1976 auf dem Grünen Hügel in Sachen „Ring“ wirklich Erkenntnisträchtiges gegeben. Wieland und Wolfgang Wagners fein brüderlich geteilte Neu-Bayreuther Entrümpelungsstrategien seit 1951, natürlich. Aber Peter Hall/Georg Solti (1983), Harry Kupfer/Daniel Barenboim (1988), Alfred Kirchner/James Levine (1994), Jürgen Flimm/Giuseppe Sinopoli (2000)? Die Zeit für ästhetische Quantensprünge in der Wagner-Pflege schien – und scheint – gründlich vorbei.

Auf Empfehlung des Dirigenten Pierre Boulez (der seinerseits 1966 mit „Parsifal“ in Bayreuth debütierte) hatte Wolfgang Wagner Anfang der siebziger Jahre den kaum 30-jährigen Filmemacher und Regisseur Patrice Chéreau engagiert. Ein unbekanntes Bürschlein und notorischen Opern-Grünling, wohlgemerkt, einen Franzosen noch dazu. Ausgerechnet für den Bayreuther Jahrhundert-„Ring“, das Jubiläum der Uraufführung der Tetralogie. Welches Wagnis. Chéreau und Boulez entledigten sich ihrer Aufgabe, indem sie die Entstehungszeit des „Rings“ auf die Bühne holten: Das 19. Jahrhundert, die beginnende Industrialisierung und also jene traumatische Entfremdung des Menschen von der Natur und sich selbst, die Machtgelüste schürt und Gewalt. Aus heutiger post-postmoderner Perspektive mag das alles eher gesittet anmuten: Das Stauwerk des „Rheingolds“, der ruinöse Backenzahn, der die Götterburg Walhall vorstellt, die wie aus einem Stahlkocher immer wieder hoch in den Schnürboden schlagenden Feuersbrünste. Und die Behauptung „19. Jahrhundert“ ist es auch nicht. Im Gegenteil: Das gesellschaftskritische Potenzial der Aufführung wird so souverän, so dezent umgesetzt, dass alles Verfallsverdächtige, nur Zeitgebundene verschwindet. Was bleibt, ist Boulez’ unbestechliches Dirigat wider allen Schmus und jedes Pathos; was bleibt, ist Chéreaus genialisch präzise Arbeit mit den Sängern. Was sich allein am Gibichungenhof an abgründigem Beziehungsgeflecht offenbart, wie tief Wotan (Donald McIntyre) und Brünnhilde (Gwyneth Jones) einander zugetan, ja verfallen sind, und mit welch grandioser Anklage das „Götterdämmerungs“-Finale alles Geschehene dem Publikum überantwortet – das trifft ins Mark und rührt bis heute. Von jeder Leinwand herab. Auf jeder Mattscheibe.

An vier Sonntagen präsentieren in Berlin die Kinos Hackesche Höfe und Filmkunst 66 sowie in Potsdam das Thalia Wagners „Ring“: heute, am 14., 21. und 28. August. Die DVD der Tetralogie ist bei der Deutschen Grammophon erschienen.

Christine Lemke-Matwey

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