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Kultur: Die Kunst der Fugen

Eine

von Jan SchulzOjala

Wohin der Mensch auch schaut, er schaut in Abgründe. Die Generation Praktikum blickt ins Zukunftsloch, die Generation Babyboom in die Rentenlücke – überall dahinschmurgelnde Etwasse, wo eben noch ewig eisgletscherne Gewissheiten funkelten. Und, ach ja und ach weh!, auch die guten alten Gletscher sind nicht mehr das, was sie mal waren.

Der tiefste Abgrund aber tut sich täglich vor unser aller Augen auf: an der U-Bahnsteigkante. In Kollektivraucherzeiten lagerte da unten das Kippengrab, dort verrotten heute noch abschiedszerweinte Zellstofftücher, und fettes Nagegetier hüpft erstaunlich hurtig durch die Schächte. Hier, zwischen Bahnsteig und Zug, verläuft die wahre Grenze zwischen Zivilisation und Unterwelt. Von hier an geht’s bergab. Und wer tatsächlich in jene Züge steigt, weiß, dass er auf Abgründen rollt, durch Abgründe und immer tiefer in Abgründe hinein.

Grund genug für die Berliner Verkehrsbetriebe, ausdrücklich auf jene metaphorische Demarkationslinie zwischen oben und unten, zwischen noch und bald, kurzum: zwischen Sodom und Gomorrha hinzuweisen. Mag sein, dass sie das schon eine Weile tut – wer aber sommers vorwiegend die Abgründe der Radfahrwege im Auge hatte, ihre Schrundungen, Verwundungen und gar ihr plötzliches Verschwinden, lauscht nun besonders hingebungsvoll den um Aufmerksamkeit buhlenden Zugdurchsagen: „Bitte beachten Sie beim Aussteigen die Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante.“

Aber ja, und wie! Welch Gedankentiefe, um nicht zu sagen, welch gedankliche Abgründe wir ihnen zu widmen pflegen! Und erst recht den sinnig komplementär verlaufenden Schriftlaufbändern auf den bahnsteiglichen Restwartezeitanzeigern: „Bitte beachten Sie beim Einsteigen die Lücke zwischen Bahnsteigkante und Zug.“ Wer jetzt nicht beachtet, der hat schlechte Karten. Wer jetzt nicht die Wahrnehmungslücke schließt, indem er die Lücke sieht, jene sich vorm Fuß auftuende Fünfzentimeterschwärze, der mag ewig auf Bahnsteigen wachen, lesen, unruhig wandern, wo die zerfransten Zeitungsblätter treiben.

Wie leicht haben es da doch die Angelsachsen: „Mind the gap“, heißt es seit Jahr und Tag in der Londoner Unterwelt vorm Einfahren in die Stationen, und so lakonisch ist die philosophische Ermahnung geraten, dass sie auf jede T-ShirtBrust passt. Ja, beachtet die Lücke, bedenket die Fugen, seid bewusst euch des Nichts zwischen Baby und Rente! Und schon hüpfen wir hurtig über den Abgrund, der unser Dasein bestimmt.

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