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Kultur: Die Kunst der Linie, geübt an einem aparten Gegenstand

Ein sehr spezielles Kapitel der Kunstgeschichte: Paul Klees „Engel“ – präsentiert in der Hamburger Kunsthalle.

Der berühmteste Engel der Moderne ist der „Angelus Novus“, den Walter Benjamin beschreibt, und längst ist geläufig, dass es sich bei diesem Engel ursprünglich um eine Schöpfung des Malers Paul Klee handelt. Das Aquarell – korrekt: die aquarellierte Ölfarben-Umdruckzeichnung – entstand 1920, im Jahr darauf erwarb es der 28-jährige Walter Benjamin in München. Er behielt es bis zu seiner tödlich endenden Flucht aus dem Pariser Exil 1940, im selben Jahr, da er den Engel als den „Engel der Geschichte“ deutete.

Ausgerechnet dieses Schlüsselwerk zum Verständnis Benjamins und auch dessen Klees ist nicht im Original in der Hamburger Ausstellung in der Kunsthalle zu sehen. Unter dem schlichten Titel „Paul Klee. Engel“ versammelt sie rund 80 Arbeiten mit jenen himmlischen Wesen, denen der Maler über seinen ganzen künstlerischen Weg hinweg – auch Klee starb 1940 – Gestalt gegeben hatte. Das Fehlen ist jedoch nicht eigentlich ein Mangel, sondern bezeichnet so etwas wie die Leerstelle, die bei aller Interpretation eines Kunstwerks bleibt und die sich genau im Mittelpunkt des Werks findet.

Der unheilbar erkrankte Klee schuf sich mit den Engeln, so heißt es im Katalog, im Spätwerk „eine Art Privatmythologie, einen Figurenkreis, in dem er seine wechselnde Verfassung, seine Gemütsschwankungen und Reflexionen angesichts einer zunehmend ausweglosen Lebensperspektive spiegelte“. Da ist für die geschichtsphilosophische Spekulation Benjamins kein Raum.

Der Engel, in Klees humorvollen Darstellungen der frühen Jahre um 1920 ein reizender Zeitgenosse, der „das Gewünschte“ bringt und „ein kleines Frühstück serviert“, hat Benjamin inspiriert, ohne dass dem Klee’schen Angelus die Aufgabe als „Meditationsbild“ – so Gershom Scholem, einer der späteren Eigentümer des Bildes – eingeschrieben gewesen wäre. Klees Engel „haben kleine Schwächen und Schönheitsfehler, sind vergesslich oder hässlich, sorgenvoll oder verspielt“; die späten „repräsentieren das Selbstgespräch eines Einsamen“, wie im Katalog überzeugend dargetan wird. Auf Klees letztem Stillleben von 1940 liegt neben der Kaffeekanne ein Blatt mit Engelsdarstellung, ein Selbstzitat, das den immer enger gewordenen Lebenskreis des dem Tode nahen Künstlers umreißt.

Man muss die Engel nicht vom Ende her betrachten. Man muss ihnen überhaupt keine tiefere Bedeutung zuweisen als die, an einem aparten Gegenstand die Kunst der Linie auszuüben, wie in den feinen, wahrhaft vergeistigten Zeichnungen des Jahres 1939. Die gleich zweimal gefertigte Zeichnung „Krise eines Engels“ lässt sich im Übrigen als Anspielung auf die Krise der Moderne unter der Wucht der Zeitgeschichte lesen. Klee war durchaus nicht in überirdischen Sphären versponnen und reagierte mit politisch anspielungsreichen Zeichnungen auf das Kriegsgeschehen jener Jahre. Sie zu zeigen, das hätte vielleicht für ein nützliches Gegengewicht zur Engelsparade in der Kunsthalle gesorgt.

Der Benjamin’schen Reflexion bedurfte es jedenfalls nicht – so oder so stellen Klees Engel ein ganz besonderes Kapitel in der Kunstgeschichte der Moderne dar. Bernhard Schulz

Hamburger Kunsthalle, bis 7. Juli. Katalog bei Hatje/Cantz, 29,80 €.

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