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Kultur: Die Lage ist ernst, meine Herren: Walter Stöhrers frühe Radierungen

Schrill muss das klingen, wenn eine kaputte Rasierklinge über Bleche aus dem Klempnerabfall fährt. Teures Radierwerkzeug konnte sich Walter Stöhrer als Student, der mit 23 von Karlsruhe nach Berlin gekommen war, Anfang der sechziger Jahre nicht leisten.

Schrill muss das klingen, wenn eine kaputte Rasierklinge über Bleche aus dem Klempnerabfall fährt. Teures Radierwerkzeug konnte sich Walter Stöhrer als Student, der mit 23 von Karlsruhe nach Berlin gekommen war, Anfang der sechziger Jahre nicht leisten. Der Gewalt aber, mit der er arbeitete, so erinnert sich Manfred de la Motte, hätten Papier und Bleistift kaum standgehalten. Also rückte er den gerade gebogenen Blechstücken mit allem zu Leibe, was standhielt und druckte mit der Wäschemangel. De la Motte, der Stöhrer damals oft im Atelier besuchte, staunte in seiner Rede zur Ausstellungseröffnung in der Galerie Parterre, wie das, was er einst als unmittelbaren Niederschlag von Gegenwart erlebt hatte, an Gelassenheit gewonnen hat.

In den siebziger Jahren begann Stöhrers Erfolg, in den Achtzigern seine Etablierung als Hochschullehrer in West-Berlin. Bis dahin hatte er zwanzig Jahre lang eine zugenagelte Kiste mitgeschleppt, die seine frühen Radierungen enthielt. Sie entstanden am Beginn der unkontrollierten Niederschriften von Erinnern und Verdrängen, Aufbauen und Zerstören. Für Kathleen Krenzlin, die in der kommunalen Galerie im Prenzlauer Berg nach Malerei-Brücken zwischen West- und Ostdeutschland sucht, war dieses grafische Werk besonders interessant. Der Surrealismus von Gerhard Altenbourg oder die Schriftverliebtheit von Carl Friedrich Claus sind ihm verwandt. Mit Unterstützung der Galerie Nothelfer kam die ausschließlich der Grafik gewidmete Ausstellung zustande.

Die ersten Blätter bezeugen die Auseinandersetzung mit Abstraktionen, die an Klee und Baumeister erinnern. Zellen, Blöcke, Überschneidungen erscheinen auf dem fleckigen Grund. Schon bald wird das linear Ausformulierte von Schraffuren zerkratzt und mit scharfen Metallzähnen überfahren. Augen, Gesichter schieben sich zwischen erregt vibrierende Linien, Kurzfassungen von Figuren schmuggeln sich zwischen das Zerfließende und Deformierte. Der Radiervorgangs selber erhält physischen Ausdruck. Vieles davon - etwa die Spiegelschrift - hat Stöhrer in seine Malerei übernommen. Teils hat er die Radierungen auch in die Bilder montiert und dann übermalt.

1964 entstand eine Mappe zu einem Gedicht von Jorge da Lima: "Die Stunde ist äußerst ernst, meine Herren. Große Revolten stehen bevor. Sie sehen auf der Jungfrau ein Meer, Sie sehen ferner die sieben Schöpfungstage, Sie sehen die Sintflut, sie sehen den Tod." Dies Ineinanderfließen von Zukunft und Vergangenheit, Prophetie und Erinnerung, das da Lima feierte, passt zu den Zeichen, Rätseln und Chiffren in Stöhrers Bilderschrift. Zuschütten und freilegen, ausgraben und verbergen: Nichts bleibt uneingeschränkt an der Oberfläche.

Der Holzschneider HAP Grieshaber, bei dem Stöhrer seine Ausbildung begann, hatte seine Studenten an Flugblatt-Aktionen gegen alte Nazis beteiligt, die wieder als Professoren zu Ehren gekommen waren. Der Furor, mit dem Stöhrer die Kunst als ein Anrennen gegen feste Formen und geschlossene Oberflächen begriff, entsprang diesem Kontext. Die surreale Beschwörung des Verdrängten war weniger Selbstentäußerung als Ungläubigkeit gegenüber der Fassade der Gesellschaft.Galerie Parterre, Danziger Straße 101, bis 27. Februar; Mittwoch bis Sonntag 14-20 Uhr.

Katrin Bettina Müller

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