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Kultur: Die letzte Kaiserin

Chronique scandaleuse: Wie Operndiva Jessye Norman das französische Colmar in Atem hält

Nein, Frau Norman gibt keine Interviews, erklärt die Pressedame. Und sie wünscht auch nicht fotografiert zu werden. Die letzte primadonna assoluta des internationalen Musikbusiness hält sich zwei Wochen im französischen Colmar auf – und bleibt doch weitgehend unsichtbar. Dabei ist das „16. Internationale Musikfestival“ der elsässischen Stadt ganz als Hommage an Jessye Norman konzipiert. Überall in den mittelalterlichen Gassen trifft man auf ihr Konterfei: Mit Mona-Lisa-Lächeln blickt sie vom offiziellen Plakat herab, als bühnenreif ausgeleuchtete, rätselhafte schwarze Schönheit, eine Aida aus Augusta, Giorgia. Es ist das einzige autorisierte Foto. Nicht einmal die lokale Zeitung darf sich ein eigenes Bild von der amerikanischen Sopranistin machen.

Seit ihrem sensationellen Debüt als „Tannhäuser“-Elisabeth im Dezember 1969 an der Deutschen Oper Berlin umgibt Jessye Norman eine geradezu magische Aura. Selbst die nörgeligsten Stimmspezialisten gehen angesichts des flutenden Wohllauts ihres Jahrhundertorgans in die Knie und verfallen in poetische Ekstase, wenn sie den Klangfarbenreichtum der Norman beschreiben, die schier endlosen Melodiebögen, die Differenzierungsfähigkeit, die Brillanz ihrer dramatischen Attacke. Jeder Auftritt der Norman ist ein Event.

Dass es Vladimir Spivakov, dem künstlerischen Leiter des Musikfestivals von Colmar, gelang, die Starsopranistin ins Elsass zu locken, wurde vor Ort als Sensation gefeiert. Drei Mal wollte sie in der Eglise Saint Matthieu auftreten, zwar jeweils nur mit 20-Minuten-Häppchen, umrahmt von jeder Menge populärer Orchesterstücke, doch immerhin. Die Diva, die im Kampf um den Titel der beleibtesten wie der beliebtesten Sängerin der Welt ihre Kollegin Montserrat Caballé wohl beidseitig überrundet hat, würde Colmar durch ihre Anwesenheit beehren.

Mit großer Entourage reiste sie im Privatjet an, ließ ihre zwölf Koffer in einer extra bestellten Limousine verstauen und verschwand ins Schlosshotel inmitten der Weinberge. Spivakovs Taktik ging diesmal nicht auf. Normalerweise fühlen sich die Künstler, denen Colmar eine Hommage bereitet, so gebauchpinselt, dass sie bereitwillig die tour de force der Empfänge, Interviews und Signierstunden über sich ergehen lassen. Von Yehudi Menuhins Auftritten schwärmt man heute noch in Colmar, und auch Krysztof Penderecki begeisterte das Publikum im vergangenen Jahr.

Jessye Norman dagegen ließ sich zu keinem Einkaufsbummel in der Altstadt überreden, verbarrikadierte sich nach den Konzerten so lange in der Garderobe, bis die Fans frustriert abgezogen waren. Nur die erste Dame des Staates, Madame Le Président, Bernadette Chirac, vermochte die Sängerin für ein Meet and Greet aus ihrer Einsiedelei zu locken: Es ging um die Ehrung von Frédéric-Auguste Bartholdi, dem großen Sohn Colmars und Schöpfer der New Yorker Freiheitsstatue. Vor 100 Jahren ist der Bildhauer, zu dessen Œuvre auch der monumentale Löwe von Belfort und das Vercingetorix-Denkmal in Clermont-Ferrand gehören, verstorben: Anlass genug, das sommerliche Musikfestival 2004 ganz amerikanisch auszurichten. Mit Mademoiselle Norman, wie die unverheiratete 59-Jährige in Frankreich hartnäckig tituliert wird, als leibhaftiger Miss Liberty.

Festivalchef Vladimir Spivakov war genau der richtige Mann für diese Aufgabe. Denn Spivakov ist eine Art russischer Justus Frantz: doppelt begabt auch er (als Dirigent und Geigenvirtuose), ein Entrepreneur, der sich seine Orchester selber gründet und sogar ein Personality-Festival betreibt. Bei „Spivakov lädt ein“ trat Jessye Norman im vergangenen Dezember in Moskau auf. Mit einer ähnlichen Werkauswahl – Wagners „Wesendonck“-Zyklus, Alban Bergs sieben frühen Liedern, einigen Gershwin-Songs sowie Französischem – wollte sie auch Colmar begeistern.

Leider blieb Spivakov beim Abschlusskonzert allein mit seiner Russischen Nationalphilharmonie auf der Bühne sitzen: Frau Norman sah sich gezwungen, das Bett zu hüten. Von den häufigen Absagen der Diva in letzter Minute alarmiert, hatten die Veranstalter ein Bodydouble ins Festivalprogramm eingebaut. Die ebenfalls aus dem US-Bundesstaat Georgia stammende Indra Thomas ist nämlich Jessye Norman – um es mit Worten aus Mozarts „Zauberflöte“ zu sagen – „in Form und Farbe ganz gleich“. In vier Songs von George Gerswhin zeigte sich die Einspringerin als souveräne Interpretin, setzte feine Pianotöne und verleugnete bei allem Sinn für Swing keineswegs, dass sie sonst meist für Verdi- Rollen engagiert wird. Auch wenn hier vielleicht nicht die neue Norman auf dem Podium stand, sondern „nur“ eine viel versprechende Heldin des italienischen Fachs – das Publikum dankte ihr den Einsatz mit stehenden Ovationen.

Um die restliche Zeit zu füllen – Jessye Norman hatte Arien aus „Carmen“ und „Samson et Dalila“ ausgewählt, die für eine jugendlich-dramatische Sopranistin wie Indra Thomas beim besten Willen zu tief liegen –, plünderten Vladimir Spivakov und seine hervorragenden Musiker die Zugaben-Notenkiste, so dass aus der Gala ein populäres Promenadenkonzert wurde. Dabei gerieten die diversen Pjotr-Tschaikowsky-Schmankerl durchaus mitreißend, Gershwins „American in Paris“ sogar geradezu sophisticated.

Die nächste Gelegenheit nachzuprüfen, wie viel von der Jahrhundertstimme der Norman im Jahr 2004 noch geblieben ist, haben übrigens die Österreicher. Nicht bei den Salzburger Festspielen, wo die Diva bis 2002 alljährlich ihren Sommerauftritt absolvierte, sondern am 28. Juli im Römer-Steinbruch von St. Margarethen. Genau die richtige Kulisse für Jessye Enormous.

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