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Kultur: Die letzten Samurai

Tokio in Berlin: Regisseur Jossi Wieler über Kabuki und U-Bahn-Geister

Herr Wieler, Sie haben in Tokio mit japanischen Schauspielern ein Kabuki-Stück aus dem 19. Jahrhundert inszeniert. Das klingt nach einem Abenteuer. Wie kam es dazu?

Vor neun Jahren habe ich schon einmal in Tokio inszeniert, auf Einladung des Goethe-Instituts. Damals war es ein deutsches Stück, „Herr Paul“ von Tankred Dorst. Diesmal war es mein Wunsch, ein japanisches Stück zu inszenieren, um nicht wieder nur als Meister wahrgenommen zu werden, der vermeintlich alles weiß, sondern um einen echten Austausch zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang war es mir auch wichtig, mit der seit vielen Jahren in Berlin lebenden japanischen Bühnenbildnerin Kazuko Watanabe zusammenzuarbeiten und mit Yoshi Oida, dem großen japanischen Schauspieler und Regisseur, der seit fast vierzig Jahren bei Peter Brook spielt. Beide sind mit dem japanischen und dem westlichen Theater vertraut.

Sie strahlen selbst eine fast japanische Höflichkeit aus.

Manche Aspekte der japanischen Mentalität entsprechen mir. Trotzdem tritt man unentwegt in irgendwelche Fettnäpfchen, auch wenn einen in Japan niemand darauf hinweist. Japaner sagen kaum Nein, sie sagen aber auf sehr unterschiedliche Weise Ja. Ich arbeite am besten in einer affirmativen, ausgeglichenen Atmosphäre. Trotzdem sind mir die Tiefen der japanischen Kultur auch bei diesem Besuch verschlossen geblieben.

„Yotsuya Ghost Story“, das Stück, das Sie in Tokio inszeniert haben, ist in Japan berühmt und hier vollkommen unbekannt. Was ist das für eine Geschichte?

Der Text ist über 300 Seiten lang, es treten etwa fünfzig Figuren auf, viele davon verlieren sich wieder, auch Erzählstränge tauchen auf und entschwinden. Tsuruya Namboku, der Autor, wird zu Recht der japanische Shakespeare genannt. Wir haben das Stück auf zwölf Figuren reduziert. In Japan ist es zwar populär, dennoch sind nur einige Schlüsselszenen bekannt: etwa die, in der die von ihrem Mann betrogene Frau Oiwa vergiftet wird. Wie sich ihr Gesicht durch das Gift entstellt, wie ihre Haare ausfallen, oder wie sie als Geist erscheint – das sind berühmte Bilder. Im Kabuki-Theater liebt man solche spektakulären Szenen, die melodramatisch aufgeladen und grausam sind. Zwei Leichen werden an eine Tür genagelt, die Tür treibt einen Kanal entlang, aus dem sie später herausgefischt wird. Fast wie in einem Splatter- Film.

Es geht um große Schaureize?

Ja. Im Kabuki-Theater geht es um die große Virtuosität der Schauspieler, die zum Beispiel in Sekundenschnelle von einer Männerrolle zu einer Frauen-Figur wechseln. Das hat etwas Volkstheaterhaftes. Es geht nicht um Interpretation, sondern um die Perfektion der Darstellung bekannter Bilder und Szenen. Was wir mit diesem Stück versucht haben, ist von dieser Tradition denkbar weit entfernt.

Sie haben den Kabuki-Klassiker aus dem frühen 19. Jahrhundert modernisiert und in die Gegenwart versetzt?

Wir haben die Sprache in ihrer alten Form belassen. Modern ist die Erzählweise und der Einheitsraum, eine leere U-Bahn-Station. Ein solches Stück als Gegenwartsdrama zu lesen, ist im japanischen Theater eher unüblich. „Yotsuya Ghost Story“ erzählt von herrenlosen Samurai, die um ihr Überleben kämpfen. Menschen, die ihre Identität, ihren gesellschaftlichen Status verloren haben. Darin ist das Stück sehr aktuell. Die Helden von früher werden schon im Original als gebrochen und schäbig gezeichnet. So trifft ein einst stolzer Samurai bei einem Besuch in der Hölle, so wird das Bordell genannt, auf seine Verlobte, die da als Masseuse arbeiten muss.

In der U-Bahn-Station leben die Samurai wie Obdachlose?

Es ist ein Stück über die Großstadt, über die Anonymität, den Überlebenskampf der Bewohner. Dafür haben wir eine Metapher gesucht. Ein prägender Eindruck von Tokio ist die U-Bahn. Die Stationen sind sehr sauber, sie wirken fast aseptisch. Es gibt kaum Spuren der Zeit oder der Millionen von Menschen, die diese Unterwelt täglich durchfluten. Sogar die homeless people halten sich diszipliniert an eine kollektive Ordnung mit den schäbigen Kartons, in denen sie übernachten. Ich habe in Japan viel über den Begriff der individuellen Freiheit nachgedacht. Sie gilt nicht, wie bei uns, als erstrebenswertes Ziel.

Die Unterwelt einer U-Bahn-Station ist auch ein Ort der Geister. Sind Geister in Japan im Alltagsbewusstsein präsent?

Geister existieren dort sehr konkret im Kulturbewusstsein. Wir Westler denken, die Geister in dem Stück stünden für das schlechte Gewissen, für die Schuld, die das Unterbewusstsein quält – wie der Geist von Hamlets Vater. Das ist in Japan anders konnotiert. Geister begleiten die Menschen durch ihr Leben, sind Teil eines religiösen Empfindens und prägen die Alltagswahrnehmung.

Hat Japan Sie verändert?

Das kann ich vielleicht in einem Jahr beurteilen. Man lernt, seine Absichten klar zu benennen oder emotionale Vorgänge von Figuren auf Proben möglichst genau zu definieren. Anders kann man sie nicht vermitteln. Persönliche emotionale Ausbrüche würden befremden, da Gefühlseruptionen in Japan selten sind. Ich war tief beeindruckt von der Demut aller dem Stück und der Arbeit gegenüber.

Das Gespräch führte Peter Laudenbach.

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