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Kultur: Die Monster-AG

Am Freitag wird Michael Jackson dem Haftrichter vorgeführt. Der Star wird dämonisiert, denn Amerika will um jeden Preis normal sein

Das Monster ist wieder da, in doppelter Gestalt. Binnen weniger Tage wurde eins aus einem Erdloch gezerrt, das andere vor einen Haftrichter. Die Fotos gingen um die Welt und konzentrierten sich auf Anomalien, zunächst vor allem im Gesichtsbereich. Im Mittelpunkt des Interesses standen die Fragen, wie viele Zähne der eine hat und was von der Nase des anderen übrig geblieben war. Seitdem werden die beiden in hohen wöchentlichen Dosen mit kleinen Neuigkeiten vorgeführt und das Publikum scharrt mit den Füßen, in Erwartung größerer Ereignisse. Besonders der jung gebliebene Jugendverderber beschäftigt die Leute, hat er doch auch visuell mehr zu bieten. Neulich, in einer Berliner U-Bahn, als Michael Jacksons aktuelles Gesicht im „Berliner Fenster“ erschien, ging ein Raunen durch die Reihen: „So was ist doch kein Mensch mehr!“

Dabei ist es noch gar nicht lange her, dass sich die Grenze zwischen akzeptabel und extrem gelockert hat: In den Neunzigerjahren war noch der renitenteste Spießer irgendwie auch ein Freak und stolz darauf. Nicht nur die Massenkultur, auch Kunst, Fashion und Hochkultur wollten ihr Verhältnis zur Abweichung neu bestimmen. So gab es zum Beispiel ein Schwestern-Paar, das die eigene Magersucht zum künstlerischen Gegenstand erklärte. Videos über Essstörungen, in denen die beiden agierten, konfrontierten eine neue Version des alten Glamours von körperlicher Selbstzerstörung mit seiner realen Schrecklichkeit. Die Vernunft siegte dennoch nicht. Abgesehen von dem ziemlich widerlichen Interesse an „echten“ Krankheiten, Verletzungen, Toten, Arbeitslosen, Obdachlosen etc., das die Kunst in den späten Neunzigern erfasste, war dies eine offenere Situation.

In den USA ist das symbolische Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Anderen wichtiger als anderswo. Es entscheidet nicht nur über Selbstverständnis dieses Einwandererlands, das zugleich Sklavenimporteur war und, xxx das sozusagen konstitutiv umstritten. Es regelt auch, wen das außen- und geopolitisch zurzeit nicht gerade passive Land für verwandt oder fremd erklärt. Dieses symbolische Verhältnis unterliegt jedoch Konjunkturen. So war es der Kunstszene und der neuerdings viel geschmähten „kulturellen Linken“ in den Neunzigern zumindest ansatzweise gelungen, dieses Selbstverständnis öffentlich thematisiert zu haben. Eine Folge davon war, dass Amerika und der Rest vom Westen sich für die ambivalente Schönheit des Geschundenen begeisterten. Models wurden bekannt dafür, Narben und Verletzungen zu zeigen. Präsident Bill Clinton sah sich sogar gezwungen, vor dem „Heroin Chic“ eingefallener Wangen zu warnen. Filmemacher wie Larry Clark und Harmony Korine drehten „Kids“ oder „Gummo“, Filme über städtische Soziopathen und die retardierte Landbevölkerung der USA, die jeden eindeutig empörten oder therapeutischen oder zynischen Blick zu vermeiden versuchten. Und in der Bildenden Kunst kursierte das Schlagwort der Abject Art: eine Kunst, die sich gegenüber dem Abjekten, dem Verworfenen, Ausgestoßenen und Ekligen aufgeschlossen zeigte.

Wenige Jahre später scheint alles ganz anders. Mehr und mehr tauchten Kreaturen auf, die wieder nach der Logik des absolut Anderen, des Monsters präsentiert werden. Natürlich war auch der Blick der Neunziger auf das vermeintlich Abgründige nicht frei vom Sensationalismus des Boulevard und jener sozialen Denunziation, die das Genre der Mittags-Talk-Show prägt. Aber immerhin trug diese neue Neugier auch zu einer Aufweichung des alten Normalitätsempfindens bei – eine Fokussierung auf das inszenierte Außenseitertum, die den Keim zur Dämonisierung jedoch schon in sich trug. Den Wendepunkt dieser Entwicklung markierten zwei Ereignisse: das Schulmassaker von Littleton, und dann, als Ratifizierung des neuen Paktes der Normalen vor allem in den USA, die Wahl von George W. Bush.

Das Massaker in Littleton weckte erneut das Bedürfnis nach klaren Grenzen. Es sollte wieder Schluss sein mit langwierigen Relativierungen, und die kulturellen Vorlieben (dunkle Rockmusik und dunkle Kleidung) und physischen Absonderlichkeiten (kein Sport) der Täter mussten als Muster für die Unterscheidung zwischen Gut und Böse herhalten. Das erinnert an den Konformismus der Fünfzigerjahre. Im Erziehungs- und Ausbildungsbereich greifen in den USA schon länger eine Zero-Tolerance-Strategie gegen schwierige Kandidaten (Hyperaktive, Unsportliche, Prozac-User) einschließlich medikamentöser Behandlungen samt Boot Camps für junge Straftäter sowie die knallharte Orientierung an einer neuen kulturellen Normalität ineinander. Letztere erreicht denn auch die lautesten Kritiker der Bush-Kultur und des Littleton-Syndroms, etwa den ostentativ als All American-Baseballkappen-Übergewicht auftretenden Michael Moore und seine selten spießige Zurückweisung von Gender Theorie. In dem Maße, in dem Minderheitenbenachteiligungen auf institutioneller Ebene erfolgreich thematisiert wurden, richten sich die Sanktionen wieder zunehmend gegen den einzelnen Abweichler. Der Normalitätsdruck prägt nicht zuletzt das Wort vom Loser, der man auf keinen Fall werden darf. Die neue Steigerung von Loser ist das Monster.

Michael Jackson hat also keine guten Karten. Auch er hat erst an der Karrierefront eine Niederlage nach der nächsten hinnehmen müssen, bevor seine Dämonisierung einsetzte. Der Abstieg vom Exzentriker zum Sonderling und von dort zum Halbwahnsinnigen verlief im Einklang mit den Plattenverkaufszahlen. Hinzu kamen die self-fulfilling prophecies der gewöhnlichen Paranoia: Die Fantasien einer öffentlichen Verfolgung des „Monsters“ wurden immer triftiger, da der Kandidat bereitwillig Verdachtsmaterial lieferte. Eigentlich hat er immer schon geahnt, dass er als Monster enden würde. Oder John Landis hat es für ihn geahnt, als er das Video von „Thriller“ inszenierte.

Dabei kann man ihm sogar glauben, dass er nur gerne mit Kindern in einem Bett schläft – und nur das. Das kann man wunderlich finden und hochproblematisch, aber es ist bei weitem nicht so monströs wie das von ihm kursierende Bild. Bei dem anderen, an der Macht anscheinend müde gewordenen Monster, ist das Verhältnis zwischen realer Schuld und medialer Dämonisierung genau umgekehrt: Die Bilder von Saddam aus dem Erdloch waren fast schon rührend. Aber die Frage nach den Vergehen der Monster ist hier nicht Thema; es geht vielmehr um den Vorgang der Erzeugung, der Konstruktion von Monstern.

Als es in den Fünfzigerjahren noch gegen große kollektive Feinde ging, in der Wirklichkeit wie in der Fantasie (Kommunisten und Aliens), im Inneren wie im Äußeren (schwarze Bürgerrechtler, Sittenverderber, Russen), waren die Monster nur in Massen vorstellbar. Sie kamen in Scharen von anderen Planeten. Heute denkt man bei Massen an nichts Böses, auch die „gelbe Gefahr“ ist inzwischen ein attraktiver Markt. Und die Monster sind wieder Einzelne. Die Logik der Dämonisierung funktioniert bei ihnen umso reibungsloser, weil die Einwände dieses Einzelnen alles sogar noch schlimmer machen. Ob sie nun wahr ist oder nur von Journalisten lanciert: Michael Jacksons letzte Reaktion, die Liaison mit der durchgeknallten, antisemitischen, afroamerikanischen Sekte Nation Of Islam passt nur zu gut in das Drehbuch seiner Dämonisierung.

Die einst durch Malcolm X und Muhammad Ali bekannt gewordene Nation of Islam verfügt heute im Unterhaltungsbusiness und besonders in der HipHop-Szene als eine Art schwarze Scientology über einigen Einfluss. In der amerikanischen Öffentlichkeit steht sie aber für das absolut Böse, weil sie das Phantasma bedient, die alten inneren Feinde, die radikaleren Afroamerikaner, könnten sich mit den neuen äußeren Feinden zusammentun: dem Islamismus. Der mit notdürftig legalisierten Morden und anderen Rechtsbrüchen dicht gepflasterten FBI-Kampagne gegen die Black Panther Party lag damals dasselbe Schema zugrunde: den Black Panthers traute man zu, die Afroamerikaner mit Moskau zu verbünden.

Heute passen Kollektive schlechter in die neoliberale Logik personalisierter Feindbilder. So wie man den Krieg gegen den Terror nur gegen ein Land führen konnte, das von einem einzelnen Monster geführt wurde, kann auch der innere Feind nur an einer einzelnen Nase festgemacht werden. Das heißt, an ihrer Kaputtheit.

Diedrich Diederichsen

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