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Kultur: Die Musterknaben

Glauben, singen, lernen: Der Leipziger Thomanerchor wird 800 Jahre alt. Aber ihn plagen Nachwuchssorgen. Dabei zeigt er, wie Bildung funktionieren könnte.

Er hat seine Stirn gegen das Fensterglas gedrückt. Draußen fliegt die englische Landschaft vorbei. Sein Name: Martin. Er ist eines von 65 Kindern, die in diesem Bus sitzen und auf dem Weg von Birmingham zum Flughafen sind. Martin, in Gedanken versunken, blickt hinaus. Er summt leise ein Lied, das in ihm nicht verklingen will.

65 Jungs im Alter von neun bis 18 Jahren auf Reisen, das müsste ein Inferno sein. 65 Rotzlöffel, die nichts als Gadgets, Social Networks und Computerspiele im Sinn haben, von der Schule genervt sind und sich mit pubertären Witzen vor der Gruppe aufspielen müssen. So ist es meistens. Aber nicht in diesem Bus. Diese 65 gehören zum Leipziger Thomanerchor. Statt Lärm, Gerempel und Chaos prägen geradezu gespenstisch gesittete Abläufe die Tournee des Chors Anfang März nach England, ob im Flugzeug, Bus, Hotel oder Konzertsaal. Bittet Geschäftsführer Stefan Altner um „Silentium“, ruht augenblicklich alle Aufmerksamkeit auf ihm. Was er ansagt, geschieht diskussionslos. Auch im Gespräch sind die Chorknaben ausnahmslos freundlich und verbindlich, sie halten einem die Tür auf und lassen einem bei der Passkontrolle den Vortritt.

Das geschieht mit einer Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit, dass man sich fragt: Kann das wirklich wahr sein? Macht allein die Musik aus Kindern so vernünftige Wesen? Und: Ist solches Musterbenehmen nach heutigen Begriffen überhaupt kindgerecht und pädagogisch zu verantworten?

Vor 800 Jahren wurden die Thomaner gegründet. Leipzig feiert dieses Jubiläum 2012 mit Festwoche, großer Festschrift, mit Ausstellungen, Konzerten, Gottesdiensten und musikalischen Stadtrundgängen und am heutigen Dienstag mit einem Festakt, zu dem sich auch der neue Bundespräsident Joachim Gauck angesagt hat. Ein Dokumentarfilm („Die Thomaner“) ist seit Anfang Februar in den Kinos, die große Asien-Tournee war ein Riesenerfolg. Wie Bildung funktioniert, seit 800 Jahren, mit allerbesten Ergebnissen, das kann man hier studieren.

Vielleicht fängt alles damit an, dass der Thomanerchor keine kostspielige Privatinstitution ist, sondern seit jeher auf das Prinzip der „schola pauperum“, die Schule der Armen, zurückgeht. In der Vergangenheit bot er für Knaben aus bescheidenen Verhältnissen die einzige Chance auf eine umfassende humanistische Bildung, damals noch ein veritabler Zukunftsgarant. Hervorgegangen waren Thomanerchor, Thomasschule, Thomaskirche und das St.-Georg-Krankenhaus aus dem 1212 gegründeten Kloster St. Thomas. Als 1543 nach der Reformation die Trennung zwischen Kirche und Staat vollzogen wurde, gingen Schule und Chor in städtische Trägerschaft über. Bis heute ist eine Ausbildung im Thomanerchor keine Frage des Geldes, die Kosten für Chor und Kantor trägt Leipzig.

Als Gegenleistung hatte der Chor die Musik an der Thomaskirche zu bestellen. An dieser Verpflichtung hat sich in 800 Jahren nichts geändert. Aus ihr ging auch die Zusammenarbeit mit Johann Sebastian Bach hervor. Neben den großen Passionen und dem Weihnachtsoratorium schrieb er in den 27 Jahren als Thomaskantor jede Woche eine neue Kantate für die Knaben. Das hat die Thomaner auch in ihrer Außenwirkung zu einer untrennbaren Einheit mit dem Komponisten zusammengeschweißt. Die Thomaner sind der Bachchor schlechthin geworden. „Wir sind wie ein eigener städtischer Betrieb ständig zu Gast in der Thomaskirche, nicht eigentlich ein Kirchenchor“, erklärt der zwölfjährige Martin beim Abendessen nach Bachs „Matthäuspassion“ in der Bridgewater Hall in Manchester. Es geht schon auf Mitternacht zu. Doch der junge Sänger ist unermüdlich.

Martin hat viel zu erzählen. Zum Beispiel davon, wie es ist, wenn er nicht wegen eines Konzerts in einem Bus sitzt. Dann studiert er unter Bachs Nachfolger Georg Christoph Biller jede Woche ein neues Programm ein für Vesper, Motette und Sonntagsgottesdienst. Für die insgesamt 97 Thomaner ist die Zeit nach der Schule mit Gesamtproben, Registerproben, Stimmbildung, Instrumentalunterricht und Hausaufgaben ausgefüllt. Nur wer sich im Stimmbruch befindet, ist von regulären Proben befreit. Martins Freizeit ist knapp, selbst fürs Essen bleibt nicht viel Zeit – doch immerhin genug, um es mit einem vierstimmigen Choral einzuleiten. Die Doppelbelastung aus Chor und Schule tragen die Thomaner nicht ohne Stolz. Ihre Abiturienten zählen landesweit zu den besten. Manche bleiben auch danach beim Gesang, ansonsten reichen die beruflichen Interessen vom Internationalen Management bis hin zur Fotovoltaik.

Stolz können auch die Eltern sein – doch ist das ein Ersatz für die verlorene Zeit mit dem eigenen Kind? Kammersänger Martin Petzold, ehemaliger Thomaner und nun Evangelist in der „Matthäuspassion“, erzählt, das Verhältnis zu seinen Eltern habe sich damals sogar intensiviert. Dennoch: Christian Wolff, der seit 1992 Pfarrer an der Thomaskirche ist, sagt auch, „es handelt sich ganz klar um ein Weggeben“. Das Internat der Thomasschule, in dem selbst die in Leipzig ansässigen Chorknaben schlafen, essen, lernen und leben, versteht sich als „Stätte der Ernährung“.

Viele Thomaner bezeichnen den Chor als ihre zweite Familie. Dazu leistet das ebenfalls 800-jährige System der „Stuben“ einen maßgeblichen Beitrag. Die Wohneinheiten sind nicht wie andernorts üblich nach Altersstufen unterteilt. Eine „Stube“ besteht aus neun bis zehn Thomanern, einem Schüler pro Jahrgang, und wird jedes Jahr neu zusammengestellt. Die älteren Jahrgänge kümmern sich um das Wohlergehen der jüngeren und jüngsten, helfen bei Hausaufgaben, trösten bei Heimweh, wachen über den Tagesablauf und sind zudem Hüter der Hausordnung. Mit jedem Jahr wächst ihre Verantwortung. „So ist es möglich, 65 Jungs allein durch eine Stadt wie Tokio ziehen zu lassen“, sagt Pfarrer Wolff. Er ist vom persönlichkeitsbildenden Wert des Systems überzeugt. „Die Stubenältesten machen das Programm und ziehen mit ihrer Stube los. Die einen besuchen Sehenswürdigkeiten, andere sitzen vielleicht nur bei McDonald’s herum, aber man kann sich darauf verlassen, dass alle pünktlich und komplett wieder zurück sind.“ Mit der Aufhebung der großen Schlafsäle, mit mehr Raum für die Privatsphäre, größeren Freiheiten hat sich das Internat außerdem dem Lebensstandard eines Jugendlichen von heute angepasst.

Als könnte Pfarrer Wolff den Gedanken vorausahnen, der sich aus einer so engen Bindung der Schüler an eine autoritäre Struktur ergibt, spricht er es gleich von sich aus an. Bisher sei ihm kein Fall von sexuellen Übergriffen im Chor bekannt, aber seit den erschreckenden Enthüllungen über das Berliner Canisiuskolleg oder die Odenwald-Schule sei man doppelt aufmerksam geworden.

Die frühesten Tondokumente des Chors stammen aus den 30er Jahren, darunter eine Rundfunkaufnahme der Bachkantaten. Der anfangs monumentale Orchesterklang, die langsamen Tempi und der expressive Gesang mussten zwar einer Reformbewegung hin zur historischen Aufführungspraxis weichen, doch wurde die stimmliche Expressivität zuvor noch einmal auf die Spitze getrieben. „Es sind für mich unheimlich bewegende Aufnahmen“, erzählt Altthomaner und Manager Stefan Altner, „aber wenn ich sie den Jungs vorspiele, lachen die sich kaputt über das enorme Pathos, das ihnen heute natürlich völlig fremd ist.“

Die Thomaner haben Nachwuchssorgen. In den Familien wird nur noch selten musiziert, und der Musikunterricht an den Schulen fristet oft ein kümmerliches Dasein. Es weiß heute schlicht niemand mehr, ob ein Kind gerne oder sogar gut singt: Eltern nicht, Lehrer nicht und das Kind selbst erst recht nicht. Deshalb schickt der Thomanerchor neuerdings Talentscouts in Kindergärten, spürt Begabungen auf und bereitet die Interessierten für die Aufnahmeprüfung vor. Nun wird mit dem Forum Thomanum außerdem ein eigener Bildungscampus eingeweiht, samt Kindergarten und Kindertagesstätte, die einer breiteren Schülerschaft – die auch Mädchen einschließt – dieselbe musikalische und schulische Ausbildung mit denselben Werten vermitteln will, wie sie die Thomaner genießen.

Krisenzeiten hat der Chor etliche durchgestanden. Kriege, Regime- und Systemwechsel, allem scheint er erfolgreich getrotzt zu haben. Während der Pestzeit, die auf den Dreißigjährigen Krieg folgte, stand er einmal sogar kurz vor der Auflösung. Doch selbst als der Chor im Zweiten Weltkrieg ins nahe gelegene Grimma evakuiert wurde, fuhren die Thomaner samstags auf Lkw ins zerbombte Leipzig, um in der Thomaskirche die Motette zu singen. „Die Menschen strömten in die Kirche“, erzählt Stefan Altner, „der Chor gab ihnen Halt in der Zeit.“

Nicht weniger bedrohlich als Kriegszerstörung und Seuchen erwiesen sich allerdings nach 1933 die Nationalsozialisten und nach 1945 die Kommunisten, die sich am christlichen Kern der Thomaner rieben. Aber da Bach nahezu ausschließlich christlich-sakrale Musik geschrieben hatte, war es nahezu unmöglich, den Chor für politisch-ideologische Zwecke zu missbrauchen. Zugeständnisse allerdings mussten gemacht und allerlei diplomatische Gratwanderungen unternommen werden. So trat der Chor 1937 geschlossen in die Hitlerjugend ein, und auch an der FdJ kam ein Großteil der Sänger nicht vorbei. Günther Ramin, Thomaskantor von 1940 bis ’56, setzte sich vehement gegen eine Instrumentalisierung des Chors bei den Nürnberger Parteitagen ein und stellte sich stattdessen als Organist zur Verfügung – was ihm später nachgetragen wurde. Und als nach der Wende bekannt wurde, dass Hans Joachim Rotzsch in die Machenschaften der Stasi verwickelt gewesen ist, musste er sein Kantorenamt niederlegen.

Durch Bachs Musik riss für die Thomaner auch der Verbindungsfaden zwischen Glauben und Bildung nie ganz ab. „Bach ist sozusagen unser Schutzheiliger“, erklärt Stefan Altner dankbar. Der Chor und der Meister aller Meister beflügeln sich gegenseitig. Bachs instrumentale Stimmführung sorgt für eine große Agilität und Virtuosität und macht die Thomaner unter anderen berühmten Knabenchören wie den Dresdner Kruzianern, den Winsbachern, Tölzern oder Regensburgern zur Ausnahmeerscheinung. Und umgekehrt gilt, was Dettloff Schwerdtfeger, der Geschäftsführer des Leipziger Bach-Archivs, sagt: „Durch die Verbindung zu den Thomanern ist Bach zur musikalischen Symbol- und Identifikationsfigur des Abendlands geworden.“

Seit 1992 steht Georg Christoph Biller in der Ahnenreihe Bachs als Kantor, ein studierter Sänger und Dirigent und selbst einst Thomaner. Seinen Fokus legt er auf die Sprache, und das Herausarbeiten verborgener Tanzrhythmen lässt die „Matthäuspassion“ in England ungewohnt leichtfüßig klingen. Immer wieder kristallisiert sich dabei eine große Dramatik heraus, weil Biller die Jugendlichen zur intensiven Auseinandersetzung mit den biblischen Texten bewogen hat.

Religion ist zwar obligatorisch an der Thomasschule und genießt einen hohen Stellenwert, doch ist jeder Schüler in seinem Glauben oder Nicht-Glauben vollkommen frei. Rund die Hälfte der Jugendlichen stammt nicht aus christlichen Familien, sondern hat einen jüdischen, adventistischen, agnostischen oder atheistischen Hintergrund. Alle aber setzen sich in der Musik aktiv mit dem Phänomen des Glaubens auseinander. Der Akt des Singens macht es auf einer sinnlichen Ebene erfahrbar. Mit dem Atem geht der Geist, der Gedanke, in den Körper ein und kommt als Musik heraus. Ob den Kindern das bewusst ist?

Auf der Rückfahrt zum Flughafen von Birmingham vertreiben sich die Jungs im Bus die Wartezeit mit Plaudern, Lesen, Schlafen – und auch mit Computerspielen, Social Networks und Gadgets. Martin, die Stirn gegen das kühle Glas des Fensters gedrückt, summt leise, wohl ohne es zu bemerken, den Choral „Jesu meine Freude“.

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