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Kultur: Die Nackten und die Boten

Das brasilianische Gastspiel „Krieg im Sertao“ an der Volksbühne Berlin

Brasilien ist immer für einen Skandal gut, ob Volkswagen oder Volksbühne. Und gleich zu Saisonbeginn: Während Frank Castorf in Buenos Aires seine schon klassische „Endstation Amerika“ zeigt, gastiert hier in Berlin das Teatro Oficina aus Sao Paulo mit dem vielstündigen Epos „Krieg im Sertao“. Drei des inzwischen auf fünf Teile angewachsenen Spektakels von der brasilianischen Genesis waren schon 2004 bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen zu sehen.

Jetzt aber, in der Hauptstadt, wird Alarm geschlagen, wie letztes Jahr bei Calixto Bieitos Mozart-Inszenierung an der Komischen Oper. Mit Nacktfotos und Pornografie-Vorwurf. „Bild“ enthüllt raunend: „Porno-Theater“. Die „BZ“, die erst kürzlich lustvoll den Regierenden Grußwortschreiber Wowereit mit den „Lederferkeln“ an den Pranger stellte, titelt „Sex-Theater mit Schülern“. Auf der Rückseite zeigt das Blatt das frisch geduschte Covergirl Heidi von der Alm („Mutter Natur ist eben doch eine wahre Künstlerin“), unter einer Geschichte über den Hertha-Star Marcelinho. Ach, Brasilien.

Regisseur Zé Celso, der in der Zeit der Militärdiktatur Folter und Exil erlitt, genießt als Künstler in Brasilien großen Respekt. Das Teatro Oficina hat er angelegt als soziales und politisches Projekt, die Ästhetik speist sich aus Straßentheater, Karneval, Mysterienspiel, Volksoper – eine eklektizistische Wundertüte, in der für jeden etwas drinsteckt. Offensichtlich auch für Sittenpolizisten.

Bis Ende September ist das Teatro Oficina in Berlin. Zuschauer- und Bühnenraum am Rosa-Luxemburg-Platz wurden aufwändig umgebaut. Das brasilianische Außen- wie auch das Kulturministerium und brasilianische Firmen haben das Gastspiel finanziert. In der Volksbühne ist man über die Gratiswerbung durch Berlins Boulevardpresse keineswegs glücklich. Eine Sprecherin erklärt dem Tagesspiegel, dass Berliner Jugendliche, die bei „Krieg im Sertao“ mitspielen, lediglich in einigen Tanz- und Gesangsszenen eingesetzt würden, ohne jegliche „erotische Komponente“.

Aber so ein „Skandal“, ist er einmal in die Welt gesetzt, macht sich selbstständig. Nun spielen die Brasilianer gegen ein Klischee an, das man bei diesem Land sehr gern hat: die Vorstellung von ungebändigter Lebenslust, sexueller Freizügigkeit, von der Vermischung aller Rassen und Geschlechter. Der schmerzhafte, provozierende Punkt beim Teatro Oficina aber ist: Das Ensemble verbindet Nacktheit mit (militärischer) Gewalt, religiöser Symbolik und historischen Begebenheiten, mit dem „Krieg im Sertao“. Ende des 19. Jahrhunderts richteten Soldaten unter den armen Bauern des Nordens ein unbeschreibliches Massaker an. Zé Celso zeigt den Kampf von Reich gegen Arm nicht mit den rhetorischen Mitteln eines Brecht-Lehrstücks, sondern in der Körpersprache seines Landes, die mit ihrem Klischee kämpft und kokettiert.

Zu sehen war am Mittwoch erst Teil 1, „Das Land“. Ein längliches Gewoge, ein Tanzen und Trommeln und chorisches Textaufsagen, vor Videos des lateinamerikanischen Kontinents. Manches im Prolog zu den kommenden Abenden und Abenteuern erinnerte an Workshop- und Polit-Mitspieltheater, wie es überall in der Welt in den siebziger Jahren gepflegt wurde; bis heute im Théatre du Soleil der Ariane Mnouchkine. Theaterhistorisch ist die Truppe aus Sao Paulo auch deshalb interessant, weil sie scheinbar naiv und antiaufklärerisch auftritt und auf viele hier wie ein Gegenmittel zum zynisch-depressiven Theatergestus deutschsprachiger Bühnen wirkt. Nacktheit auf offener Szene, mag sie bei den Südamerikanern auch exzessiver, unverschämter, politischer daherkommen (erinnert sei an das Brasilien-Festival „Move Berlim“ vom April 2005), ist keine exotische Erfindung. Hamburgs splitternackter Othello war eben nur angemalt, sein Sex vergleichsweise schlecht angetäuscht.

Man muss dieses brasilianische Theater, das auf seltsame Weise mit Frank Castorfs neuer Sehnsucht nach einem höheren Wesen korrespondiert (Dostojewski! Voodoo!), nicht goutieren; es ist schon auch eine Prüfung. Ebenso wenig aber gibt es Anlass, das Treiben zu verleumden und zu verdammen. Sind die horrenden „Desastres de la Guerra“, die „Caprichos“ von Goya wirklich besser zu ertragen, nur weil sie hinter Glas im Museum hängen?

„Krieg im Sertao“, Volksbühne, 16. und 17. 9. (Teil 3 und 4), 21. bis 24. 9. (Teil 1 bis 4). 25. 9.: Lesung Teil 5 mit Martin Wuttke

Rüdiger Schaper

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