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Kultur: Die neue Führung muss ein gewandeltes Selbstverständnis vermitteln (Analyse)

Wer auch immer am Sonntag von den Mitgliedern des Präsidiums des Zentralrates der Juden in Deutschland zum Vorsitzenden gekürt wird, eine Überraschung wird es nicht geben. Zur Wahl stehen zwei Kandidaten, Charlotte Knobloch und der im Vorfeld favorisierte Paul Spiegel.

Wer auch immer am Sonntag von den Mitgliedern des Präsidiums des Zentralrates der Juden in Deutschland zum Vorsitzenden gekürt wird, eine Überraschung wird es nicht geben. Zur Wahl stehen zwei Kandidaten, Charlotte Knobloch und der im Vorfeld favorisierte Paul Spiegel. Beide sind Gemeindevorsitzende, beide waren Stellvertreter des verstorbenen Ignatz Bubis im Zentralrat. Bemerkenswert zudem: Beide gehören nicht mehr zur Gruppe der Überlebenden im engeren Sinne, sondern zur Generation, die ihre Prägungen im Nachkriegsdeutschland erfahren hat. In gewisser Weise stehen beide Kandidaten für ein neues Selbstverständnis. Das Verhältnis von Juden und Nichtjuden wird künftig nicht mehr bestimmt durch Männer wie Heinz Galinski oder Ignatz Bubis, deren Leben durch die Lagererfahrung und das Überlebenstrauma geprägt war und die insbesondere deswegen in der bundesdeutschen Gesellschaft nach 1945 als moralische Instanzen galten. Diesen Anspruch werden Charlotte Knobloch und Paul Spiegel nicht erheben können.

So wie in der bundesdeutschen Politik ein Generationswechsel mit den entsprechenden Konsequenzen stattgefunden hat, vollzieht sich auch in den jüdischen Gemeinden ein Prozess der Neuorientierung und der vorsichtigen "Normalisierung". Die Shoa wird vielfach nicht mehr als peinigende Gegenwart, sondern zunehmend als Geschichte empfunden. Das Gefühl, ein "Leben auf gepackten Koffern" zu führen, hat sich mehr oder weniger verflüchtigt. Man hat sich eingerichtet, fühlt sich in Deutschland zu Hause, wenn auch dieses sich inzwischen eingestellte "Heimatgefühl" mitunter durch unsensible Äußerungen von Politikern, rechtsradikale Ausschreitungen und Schändungen jüdischer Friedhöfe gestört wird.

Von dem/der künftigen Vorsitzenden des Zentralrats erwarten die Gemeinden, dass sie/er nicht mehr auf jeder Hochzeit tanzt, sondern sich mehr der Probleme in den Gemeinden annimmt. Zu tun gibt es wahrlich genug. Allein durch die Zuwanderung von mehr als 70 000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ist eine äußerst schwierige Situation entstanden. Die meisten Gemeinden sind vor geradezu unlösbare Schwierigkeiten gestellt. Mit der Integration der Zuwanderer werden sie weitgehend alleine gelassen.

Von der/dem neuen Vorsitzenden wird erwartet, dass sie/er nicht mehr bei jedem Staatsakt in der vordersten Reihe steht und bei dazugehörigen Empfängen Honneurs entgegennimmt. Erwartet wird vielmehr, dass sie/er sich in erster Linie um die Schaffung der notwendigen politischen Rahmenbedingungen kümmert, die es den Gemeinden ermöglichen, die anstehenden Probleme zu lösen, die meist sehr konkreter Art sind wie etwa die Wohnungsbeschaffung für Zuwanderer, das Vermitteln von Arbeitsplätzen, das Organisieren von Sprachkursen u.a.

Als noch komplizierter wird sich eine andere Herausforderung darstellen. Sie/er muss dafür sorgen, dass die Einheitsgemeinde nicht durch innerjüdische Streitereien weiter in Frage gestellt wird. Das Prinzip, über das lange Jahre Konsens herrschte, kann nur dann funktionieren, wenn auch künftig in den Gemeinden alle Gruppen und Strömungen die Möglichkeit haben, sich so einzurichten, wie es ihnen gefällt. Das gilt für Orthodoxe und gemäßigt Konservative, für Liberale und Reformer, für die Anhänger von Chabad bis hin zu den radikalen Befürwortern eines egalitären Gottesdienstes.

Beide Kandidaten sollten sich vor der Wahl am Sonntag zur Frage der Einheitsgemeinde eindeutig erklären. Es wäre fatal, wenn es in Zukunft zu Spaltungen innerhalb der Gemeinden und zu gegeneinander arbeitenden Gruppierungen käme. Wer auch immer künftig an der Spitze des Zentralrates der Juden steht, sollte bemüht sein, solchen Entwicklungen gegenzusteuern. Dazu gehört auch, konstruktive Gespräche mit Verbänden wie zum Beispiel der "Union progressiver Juden in Deutschland, Österreich und der Schweiz" zu führen mit dem Ziel, diese nicht auszugrenzen, sondern möglichst in gemeinsame Arbeitskonzepte einzubinden.Der Autor ist Professor für Neuere Geschichte und Direktor des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam.

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