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Kultur: Die neue Mutti des Vergnügens

Von Thomas Lackmann Am Ende wird geknutscht, geschwoft, geschwipst. Der schönste Blumenstrauß ging an Biggi Mira.

Von Thomas Lackmann

Am Ende wird geknutscht, geschwoft, geschwipst. Der schönste Blumenstrauß ging an Biggi Mira. Der Umweltminister sitzt, genießt und guckt. Künstler und Impresarios umhalsen sich. Wer auch immer zur zehnjährigen Erfolgsstory der Wilmersdorfer Bar jeder Vernunft beigetragen hat, schwebt in ihrem nunmehr für neun Monate zwischen Kanzleramt und Haus der Kulturen der Welt eröffneten Jubiläumszelt „Tipi“ auf legitimen Glückswolken. Eingeweiht worden war Berlins neues Entertainment-Zentrum eigentlich schon am Donnerstag, mit einer privaten Geburtstagsgala, für die der Freund des Geburtstagskindes, Nachbar Schröder, mal eben aus seinem Büro herüberkam. Zwei Tage später, am Ende des Geburtstagsabends der Bar, ist die Stimmung noch besser als die Lage.

Am Anfang der Geschichte der Bar jeder Vernunft steht der nostalgische Glanz eines alten Spiegelzeltes auf einem schäbigen Parkdeck. Alfred Biolek moderiert traumwandlerisch, die Opening-Revue beginnt mit einer Hommage an die unbehauste Behausung. „Ein Zelt ist ein Zwischenraum, ist Zuhaus und Exil, ist Eremitage und Spiegelpalast, ist Fantasie, ist Philosophie.“

Der Talkmaster zitiert ein Gedicht von Georgette Dee, dann tritt – schwarzer Samt, Kippe, Rotwein – die Diseuse selber an, zum ersten Erschütterungsmoment in dieser Juninacht. Meditative Inbrunst, fast geschlossene Augen. Er gehe allein durch die große Stadt, singt Georgette Dee, und frage sich, ob ihn jemand lieb habe. Er warte auf etwas – auf was nur. „Menschenkind, warum glaubst du bloß, gerade dein Leid, dein Schmerz wären riesengroß?“ Er wünsche sich nur, ein bisschen glücklich zu sein, bei zu viel Glück hole ihn das „Heimweh nach dem Traurigsein“ ein. Unvermutet konfrontiert Friedrich Hollaenders Chansonklassiker das fahrende Brettlvolk und seine Spaßgesellschaft mit dem melancholischen Riesenspiegel der verlorenen Utopie. Zugleich bietet sich das große blaue Tipi auf roter Auslegware der Neue-Mitte-Society als tröstlicher Schürzenzipfel an: die Neue Mutti der Nightlife-Geborgenheit im Tiergarten der Macht.

Am Ende, das beweist die Best-of-Palette der Zugpferde im Rückblick auf ihre Dekade der Kleinkunst-Renaissance, sind alle, irgendwie, hochzufrieden. Hits von seinerzeit dokumentieren nebenbei, zuckersüß, wie die eigenen Jahre verrinnen. Die Geschwister Pfister forcieren tempogeladen den ironischen Thrill des Schlager-Sentiments. Maren Kroymann, die Power-Frau des Abends, feiert den weinenden Mann als Cowboy. Ein zu neuer Vortragsschärfe erstandener Tim Fischer erkennt in Georg Kreißlers traurigem Lied vom pointenlosen Witz die bodenlose Weltschmerzgroteske. Gerd Wamelings und Otto Sanders Rezitationen verweisen auf literarische Ambitionen des Revival-Cabarets. Einblendungen von der umjubelten „Weißes Rössl“-Inszenierung beweisen, dass die jüngste Vergangenheit bereits Legende ist, und wir waren dabei. „Auch du wirst mich einmal belügen“, kräht Brigitte Mira, das ist – trotz vieler Amtsträger im Raum – keineswegs politisch, eher angeduselt gemeint. „Ich seh dich vor mir, als wenn du von gestern wärst“: Die Cognac-Arie der Unverwüstlichen kommentiert das Mainstreamprogramm und seine retrospektive Engführung. Als gehobene Unterhaltungsfabrik mit mehr als 500 Plätzen mag das neue Zelt, die dralle Tochter der intimen Wilmersdorfer Bar, eine Chance haben, am Ort der Alt-Berliner Lustbarkeitsmeile „In den Zelten“ zum metropolitanen Vergnügungsnabel zu avancieren. Doch über den Gehalt künftiger Spielpläne verrät diese Premiere nichts, ihre Knüller sind von damals.

Am Anfang, vor gut hundert Jahren, das wird am Tipi-Tresen programmatisch rezitiert, erfand der Schriftsteller Otto Julius Bierbaum die Theorie eines deutschen Tingeltangels, der mit seinem „Humor die Welt am Ohr nimmt, mit den Sternen jongliert und auf des Weltgeists Schnurrbartenden Seil tanzt“. So abgründig komisch, wie er sich hätte entwickeln dürfen, ist der Jubiläumsseiltanz dann doch nicht geworden; obwohl die Veranstalter ihren Fernsehabend sogar mit dem Brechtzitat „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ betitelt haben. Die kulinarische Tipi-Logistik funktioniert, die musikalische Gemütsverpflegung ebenfalls; aber hätten sich zur Adrenalintherapie zwischen Kopf und Bauch nicht noch ein paar Provokateure oder so genannte Avantgardisten einfliegen lassen, wie Malediva (leider krank), Cora Frost (tja, verhindert) oder Kabarettisten wie Josef Hader oder Matthias Deutschmann?

So bleibt der zweite Erschütterungsmoment des Abends dem Jacques-Brel-Interpreten Dominique Horwitz vorbehalten. „Wenn man jung ist, hasst man die Spießer, obwohl man vielleicht selber einer ist. Man muss nur lange genug warten, um das herauszufinden.“ Horwitz singt „Le Bourgeois“. Am Anfang ballt er die Faust und schreit. Zuletzt knöpft er die Jacke auf, streckt den Bauch heraus und grölt. Wer genug frisst, kriegt vielleicht, ob als Kanzler oder als Hofnarr, auf dem Hochseil unter den Sternen urplötzlich Schluckauf. Dann geht die Party richtig los.

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