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Kultur: DIE NEUE WALSER-DEBATTE: Baum und Raum

Manche Menschen haben immer Pech. Sie kommen zu spät zum Zug, lassen ihre Geldbörse im Café liegen oder werden beim Wechselgeld übers Ohr gehauen.

Manche Menschen haben immer Pech. Sie kommen zu spät zum Zug, lassen ihre Geldbörse im Café liegen oder werden beim Wechselgeld übers Ohr gehauen. Andere Pechvögel werden immer mißverstanden und müssen sich mit Klarstellungen, Gegendarstellungen und Richtigstellungen wehren. In diese Kategorie gehören hierzulande vor allem Ernst Nolte, Christian Ströbele, Alice Schwarzer und Martin Walser, die einerseits zur intellektuellen Elite der Republik gezählt werden, andererseits immer zum Beleidigtsein neigen, weil ihnen das Wort im Mund verdreht wird, wofür sie natürlich nichts können. Ströbele wehrt sich seit dem ersten Golfkrieg gegen die Unterstellung, er sei ein Antisemit, nachdem er nur gesagt hatte, die Israelis wären selber schuld, wen ihnen die irakischen Scud-Raketen unterm Hintern explodierten. Als militanter Pazifist, der früher mal Geld gesammelt hat, um "Waffen für El Salvador" anzuschaffen, kann er immanente Widersprüche mühelos absorbieren. Ernst Nolte findet zwar, das Dritte Reich sei eine Art kollektive Selbsthilfe gegen den Bolschewismus gewesen, möchte aber nicht für einen Apologeten der Nazis gehalten werden. Alice Schwarzer ist eine bekennende Antifaschistin, zugleich aber auch eine bekennende Leni-Riefenstahl-Verehrerin, die ihr Idol, Verkörperung der deutschen Unschuld, rehabilitiert sehen möchte. Und Martin Walser versteht es, sich so auszudrücken, daß seine Zuhörer ihn anders verstehen, als er sich selbst verstanden hat.

Auf eine gruselige, geradezu zwanghafte Art haben alle diese Mißverständnisse mit der Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart zu tun. Und wie in dem Märchen von dem Scheinriesen, der immer größer wird, je weiter man sich von ihm entfernt, werden auch die Schatten der zwölf Jahre von 33 bis 45 länger und länger, je weiter die Geschichte fortschreitet. Das muß wahrscheinlich so sein. Was nicht sein muß, ist allerdings, daß einer, dessen Handwerk die Wortkunst ist, immerzu falsch verstanden wird und nix dafür kann. Schon bei seiner Frankfurter Paulskirchen-Rede, die ebenso kokett wie vieldeutig war, hat Walser "Mißverständnisse" herbeigeredet, indem er von "Instrumentalisierung" sprach, aber keine Beispiele nannte und sich dann empörte, als der Begriff auf ihn zurückschnappte. Und nun ist die verfolgende Unschuld wieder da; er habe über das Mahnmal doch nur gesagt: "Man solle sich überlegen, ob man diese Frage nicht durch die Berliner entscheiden lassen könne. Das wäre doch viel besser, als wenn der Bundestag entschiede. Denn die Berliner müssen ja mit dem Mahnmal leben." Zitiert Walser in indirekter Rede sich selbst, also garantiert richtig, in der FAZ, die ihm zur Seite springt wie ein Terrier seinem Herrchen beim Stöckchenholen. Daraus habe dann ein böswilliger Reporter geschlossen, Walser fordere die Berliner dazu auf, "öffentlich gegen ein Mahnmal zu protestieren", was er, sagt Walser, nie gesagt, nicht einmal gemeint habe. . .

Das mag schon so sein, die Frage ist nur, warum Walser immer erst hinterher einfällt, was er eigentlich sagen wollte. Könnte er es nicht einmal schon im ersten Anlauf sagen? Der Einfall, die Berliner über das Mahnmal entscheiden zu lassen, weil sie es sind, die mit dem Mahnmal leben müssen, ist so originell wie absurd. Man hat die Berliner nicht über den Reichstagsumbau entscheiden lassen und man hat sie auch nicht gefragt, ob sie mit dem Zuzug der Bonner Bürokraten einverstanden sind, obwohl sie es sind, die sowohl mit dem Reichstag wie den Bonnern leben müssen. Wie sollen denn, halten zu Gnaden, die Berliner "entscheiden"? Per Ted-Telefon wie beim Grand Prix? Oder mit Hilfe von Allensbach, das die Frage "Sind Sie für oder gegen ein Mahnmal" huckepack bei einer Umfrage mitnehmen könnte, ob die Berliner für oder gegen eine Verlängerung der Sommerzeit sind? Solange Walser nicht sagt, wie er sich den Entscheidungsprozeß vorstellt, sind alle Überlegungen über die möglichen Wege zulässig, gehören öffentliche Proteste und Massendemos zu den Optionen, über die spekuliert werden kann. Und da es mit Sicherheit kein Plebiszit geben würde, müßte sich der Protest praktisch auf der Straße äußern. Worüber also regt sich Walser auf? Offenbar darüber, daß einer den Gedanken ausgesprochen hat, den er sich verkniffen hat.

Walser, der es so genau nimmt, wenn es um ihn geht, geht mit anderer Leute Zitaten großzügiger um. Der Begriff "Kranzabwurfstelle" stammt nicht, wie er behauptet, von Jane Kramer, sondern Jane Kramer hat ihn im "New Yorker" zitiert, unter Angabe einer Quelle, die auch Walser bekannt sein müßte, wenn er Jane Kramer wirklich gelesen hätte. Und wenn er von "Berichterstattung im Stürmer-Stil" spricht und sich dabei hinter einem "Überlebenden von Auschwitz" versteckt, dann instrumentalisiert er sowohl den Auschwitz-Überlebenden wie auch den "Stürmer" für eine private Petitesse, betreibt also genau das, was er anderen vorwirft. Das genau ist die "Moralkeule", die einer schwingt, dem die Worte ausgegangen sind.

Derweil dreht sich das Karussell der "Mißverständnisse" weiter. Veranstalter der Debatte, an der Walser teilgenommen hat, war ein Verein mit dem Namen "Lebensbaum", der "Lebenshilfe jeder Art" leisten möchte. In der "Welt" wird daraus eine "Organisation Lebensraum". Da freut sich Sigmund Freud aus seinem himmlischen Versteck, und Martin Walser setzt vermutlich zu einer Klarstellung an, daß er mit der Organisation "Lebensborn" nie etwas zu tun hatte.

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