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Kultur: "Die Ordnung der deutschen Gesellschaft": Zur Mitte streben - Wie die Deutschen im 20. Jahrhundert ihre Gesellschaft beschrieben

Im Bundestagswahlkampf 1998 entdeckte der SPD-Spitzenkandidat Gerhard Schröder die Wähler aus der "neuen Mitte" für sich - auch wenn keiner genau sagen konnte, wer dazugehörte. Doch die "Mitte" als politischer Bekenntnisbegriff ist keineswegs eine Erfindung sozialdemokratischer Wahlkampfstrategen: Die Anziehungskraft dieses gesellschaftlichen Konzepts lässt sich bis in die Weimarer Zeit zurückverfolgen.

Im Bundestagswahlkampf 1998 entdeckte der SPD-Spitzenkandidat Gerhard Schröder die Wähler aus der "neuen Mitte" für sich - auch wenn keiner genau sagen konnte, wer dazugehörte. Doch die "Mitte" als politischer Bekenntnisbegriff ist keineswegs eine Erfindung sozialdemokratischer Wahlkampfstrategen: Die Anziehungskraft dieses gesellschaftlichen Konzepts lässt sich bis in die Weimarer Zeit zurückverfolgen. Bereits in den 20er Jahren fühlten sich weit mehr Menschen einem "Mittelstand" zugehörig, als es der Realität entsprach.

Doch auch in der Bundesrepublik setzte sich das "Streben zur Mitte" fort. Ein wichtiges gesellschaftliches Leitbild der 50er Jahre war die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" (Helmut Schelsky). Diesen sozialen Selbstbeschreibungen der Deutschen im 20. Jahrhundert ist der Historiker Paul Nolte nachgegangen. Neben die Sozialgeschichtsschreibung stellt Nolte die Frage nach der Wahrnehmung und Deutung der sozialen Ordnung durch die Zeitgenossen. Wichtige Quelle für diese Selbstbilder ist dabei die wissenschaftliche Beschreibung der Gesellschaft durch die noch junge Soziologie. Denn die Soziologen versuchten sich nicht nur als Seismographen der Gesellschaft, sondern beeinflussten mit ihren Begriffsbildungen und Deutungsmustern auch das Bild der Deutschen von ihrer Gesellschaft.

Vom späten 19. Jahrhundert bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts beschäftigten sich die Deutschen intensiv mit Problemen der sozialen Ordnung. In der Weimarer Republik, so Noltes These, wurde diese Selbstbeobachtung zur Obsession. Angesichts der sozialökonomischen Veränderungen, die der Übergang zur Industriegesellschaft mit sich gebracht hatte, glaubten sich die Zeitgenossen in einer tiefen Krise. Die Gesellschaft erschien ihnen scharf gespalten in "Arbeiter" und "Bürgertum" - und dieses Leiden an der Klassengesellschaft hielt sich selbst dann noch hartnäckig, als sich die im Kaiserreich entstandenen soziokulturellen Milieus aufzulösen begannen.

Auf der Suche nach einem Ausweg aus der Gegenwartsgesellschaft flüchteten sich alle politischen Lager in soziale Utopien und in die Sehnsucht nach einer homogenen Gemeinschaft. Das "Volk" und die "Volksgemeinschaft" wurden, wie Nolte mit eindrucksvollen Beispielen belegt, zu allgemein anerkannten Leitbildern. Auf dieser prinzipiellen "Gesellschaftsfeindschaft" konnten die Nationalsozialisten mit ihrer scheinbar inklusiven "Volksgemeinschaft" aufbauen.

Abschied von sozialen Utopien

Erst in der frühen Bundesrepublik lernten die (West-)Deutschen, eine pluralistische Gesellschaft zu akzeptieren. Gleichzeitig verabschiedeten sie sich von den sozialen Utopien. An deren Stelle trat in der Wirtschaftswunder-Zeit die Hoffnung auf den individuellen Aufstieg. Zwar wurden die sozialen Unterschiede nie eingeebnet, doch das Konzept der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" passte zur neuen Aufstiegsmobilität und zur Vereinheitlichung der Lebensstile und Konsumgewohnheiten.

Nolte kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Deutschen - auch konservative Intellektuelle - Anfang der 60er Jahre mit ihrer Gesellschaft versöhnt hatten. Methodisch entstand Noltes Studie nicht zuletzt aus der Kritik an der "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" seines Lehrers Hans-Ulrich Wehler. Dieser, so Noltes Einwand, frage nicht nach der Entstehung und "Erfindung" des Konzepts einer "deutschen Gesellschaft".

Diese Lücke hat Nolte mit seiner Studie geschlossen. Doch vor allem ist ihm die eindrucksvolle Verknüpfung von klassischer Sozialgeschichte und den verhältnismäßig jungen Ansätzen der Ideen- und Mentalitätsgeschichte gelungen. Bleibt zu hoffen, dass dieser Weg weitergeführt wird - insbesondere im internationalen Vergleich. Denn auch in den USA gab es in den dreißiger Jahren eine Krise der Moderne. Doch anders als in Deutschland, wo diese Krise in eine Radikalkritik der Gesellschaft mündete, wurde sie in den USA auf demokratischem Wege bewältigt.

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