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Kultur: Die Partei zweifelt nie

Der ehemalige SED-Funktionär Dietmar Keller hat eine beeindruckende Autobiografie geschrieben.

Am 22. Januar 1993 trug sich in Bonn in einer nicht öffentlichen Sitzung der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ Ungewöhnliches zu. Der PDS-Abgeordnete Dietmar Keller, Mitglied der Kommission, hielt einen Vortrag über die „Machthierarchie der SED-Diktatur“. Der Beitrag schlug wie eine Bombe ein – im eigenen Lager. Keller hatte die SED als „Sekte“ bezeichnet, die eine militärische Hierarchie aufwies, und auch sonst keinen Zweifel am antidemokratischen Charakter der SED gelassen. Als der Vortrag später ohne Kellers Zutun im „Neuen Deutschland“ veröffentlicht wurde, brach ein Sturm der Entrüstung los, der all jenen recht gab, die am ehrlichen Aufarbeitungswillen dieser Partei und ihrer Mitglieder Zweifel hegten. Keller, damals durchaus kein Mann der dritten Reihe, hat nun eine Autobiografie vorgelegt, in der er seinen verschiedenen Wegen zur Wahrheit nachspürt.

Keller, geboren 1942, kommt aus einfachen Verhältnissen. Seinem Vater malt er nicht gerade ein Bild der Verehrung. Er reibt sich noch heute an ihm, fragt sich, was seinen Vater so hart werden ließ, und vermutet, dass es die Kriegserlebnisse waren, das Mittöten, worüber weder bei Kellers noch in den meisten anderen Familien gesprochen wurde: „Die fehlenden Antworten meines Vaters quälen mich noch heute.“ Nicht nur über seine Eltern, auch über seine drei Ehefrauen, seine familiären und persönlichen Verhältnisse schreibt Keller in einer manchmal etwas eitlen, oft berührenden, wenn auch postpubertären Art, die ihn als Menschen aber deutlich sichtbar werden lässt.

Dietmar Keller diente nach dem Abitur freiwillig in der NVA. Anschließend studierte er in Leipzig Marxismus-Leninismus, trat 1963 der SED bei und promovierte 1969. Daran schloss sich eine nicht geplante Funktionärskarriere an. Zunächst Sekretär der SED-Kreisleitung der Universität, ist er 1977 Sekretär der SED-Bezirksleitung geworden. Nach einem einjährigen Studium in Moskau wurde er 1984 stellvertretender Kulturminister, 1988 im selbigen Ministerium Staatssekretär und im November 1989 schließlich Kulturminister. Für die PDS zog er nach dem 18. März 1990 in die Volkskammer ein, anschließend war er bis 1994 Bundestagsabgeordneter. Bis 2002 arbeitete er dann als Mitarbeiter der Fraktion, mit dem Ende dieser Tätigkeit trat er aus der PDS aus. Der Entfremdungsprozess war schon seit den frühen 90er Jahren auch für Außenstehende nicht mehr zu übersehen.

Das Buch stellt weder eine Generalabrechnung mit der DDR dar noch verklärt es diese. Natürlich kann man verschiedentlich anderer Meinung sein, natürlich sind so manche historischen Einschätzungen von Keller gewagt. Aber die Radikalität, mit der er zuweilen sein eigenes Wirken beschreibt und analysiert, ist oft frappierend. Er schreibt zum Beispiel: „Wenn ich zweifelte am Lauf unserer sozialistischen Dinge, dann nur, wenn die Führung meiner Partei auch zweifelte. Und die zweifelte nie.“ Oder: „Was sich nicht disziplinieren, beschneiden oder zurechtbiegen ließ, wurde abgestoßen, versetzt oder seiner sozialen Sicherung entzogen.“

Das Buch bietet viele Hintergrundinformationen aus dem Alltagsleben eines SED-Kulturfunktionärs. Man glaubt Keller, dass er zunehmend selbst unter den rigiden Vorgaben und ideologischen Engen litt. Ihn bekümmert, falsche Entscheidungen gefällt oder mitgetragen zu haben. Auch wenn er die eigenen Zwänge schildert, stellt er sich aber nicht als Opfer der Umstände dar, sondern als Akteur dieser Umstände. Auf so manchen kulturpolitischen Erfolg ist er dabei noch heute stolz, was sich auch nachvollziehen lässt.

In der Ära Gorbatschow fing er an, sich innerlich von der Parteiführung abzuwenden – öffentlich lautlos. Allerdings verkündete er 1987 in der Bundesrepublik: die DDR werde das Jahr 1989, sollte alles so bleiben, nicht mehr überstehen. Er erklärt in dem Buch leider nicht, wie er damals darauf kam. Zu vermuten ist, dass er von sowjetischen Kollegen und Freunden Informationen bekommen hatte. Aus den Jahren nach 1989 setzten ihm mehrere Kampagnen gegen seine Person zu – die tiefe Verletzung und Kränkung kann man im Buch nacherleben. Er sah sich Angriffen von vermeintlichen Freunden und von Künstlern wegen unterstellter Handlungen vor 1989 und von vielen Genossen seiner Partei wegen seiner Haltung nach 1989 ausgesetzt.

Dieses Buch ist allen, die an der Geschichte seit 1945 bis zur Gegenwart interessiert sind, sehr zu empfehlen. Es stellt weder einen glattgebügelten biografischen Bericht noch eine geschönte DDR-Geschichte dar. Dietmar Keller ist einer der wenigen SED-Funktionäre, die sich seit 1989 fast jedem Podium stellten. Dass er dabei immer viel Prügel einstecken musste, kann man sich gut vorstellen – meistens meinte die harsche Kritik aber nicht ihn, sondern das System. Das ist der Preis, den er in den neuen „Mühlen der Ebene“ zu zahlen bereit war, weil viele andere Funktionäre lieber beharrlich schwiegen oder einfach nur logen.

Mit diesem Buch hat Dietmar Keller einen beeindruckenden Bericht vorgelegt, der nicht nur wirklich interessante Facetten eines Funktionärslebens in der DDR aufzeigt, der nicht nur den seltenen Typus eines intelligenten Funktionärs spiegelt, sondern der sich zudem seiner früheren Verantwortung nach 1989 stellte, der dafür wiederum zwischen die Fronten geriet und der letztlich, nach vielen Höhen und Tiefen, offenkundig doch ganz bei sich blieb. So gerät das Buch in den letzten Kapiteln auch noch zu einem Insiderbericht zur SED/PDS nach 1989 – neue Freunde innerhalb dieser Partei wird er sich damit wohl kaum machen. Dietmar Keller dürfte es egal sein, er blieb seinen Wahrheiten treu und die meisten davon sind so überzeugend dargestellt wie nur ganz selten aus der Feder eines früheren SED-Funktionärs.

Dietmar Keller:

In den Mühlen der Ebene. Unzeitgemäße Erinnerungen. Karl Dietz Verlag, Berlin 2012. 254 Seiten, 24,90 Euro.

Ilko-Sascha Kowalczuk

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