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Kultur: Die permanente Revolutionärin

Jutta Ditfurths Lebensweg hat Seltenheitswert: Die Ex-Grüne führt immer noch Kriege, die andere längst gewonnen haben. Eine Begegnung

Im Netz fragt jemand: „Was wurde eigentlich aus Jutta Ditfurth?“ Er nennt sich Red Dawn und schreibt, ihm sei das beim Fernsehen eingefallen, als er beim NDR die „Nacht der Grünen“ sah. Der Chat läuft unter dem Rubrum „Yellow Press & Skurriles“. Wir haben 2005, Januar, um genau zu sein. Jutta Ditfurth sitzt an ihrem Schreibtisch in Frankfurt am Main und arbeitet an einer Biografie über Ulrike Meinhof, die im Herbst erscheinen soll, zum Beispiel. Ein gewisser Colarum weiß davon nichts. Er lästert: „Ne alte, verbitterte, manchmal leicht verwirrt erscheinende Ökokämpferin wurde aus Jutta Ditfurth.“ Red Dawn antwortet: „Verbittert wäre ich auch, wenn ich in einer Partei miterlebt hätte, wie sich ein Fischer allein durch Medienbilder à la erster Turnschuhträger im Bundestag nach vorne gedrängelt hat und die grünen Ideen, die zur Parteienbildung geführt haben, heute längst überzeugender von der CDU vertreten werden, während die Grünen die FDP der Öko-Bourgeoisie geworden sind.“ Wahrscheinlich hat Red Dawn die Sendung beim NDR nicht gefallen.

Was wird aus einer Frau, die mit Begriffen wie „stalinistisch“, „kaderhaft“ und „ideologisch verbohrt“ beschrieben worden ist? Die ausgeteilt hat, aber auch viele Schläge einstecken musste, nicht nur am linken Rand der Grünen, nicht nur im übertragenen Sinn. In den 80er Jahren, als der Kampf zwischen den damals so genannten „Realos“ und „Fundis“ um die Vorherrschaft in der Partei tobte, bezeichnete der „Spiegel“ Jutta Ditfurth als „bürokratische Asketin“, als „Domina im Bundesvorstand“ der Grünen, während das Magazin ihren Gegenspieler Joseph Fischer zum „King der alternativen Szene“ krönte, Joschka, der schmuddelige Liebling der Medien, mittlerweile gewaschen, gekämmt und Außenminister. Der Streit hat im Laufe der Jahre viele Themen gestreift – Atomausstieg, NATO, Koalition mit der SPD.

Jutta Ditfurth betritt die Kneipe im Nordend, dem früher alternativ bewegten Frankfurter Altbauviertel, drei Blocks entfernt von der Wohnung, in der sie seit 27 Jahren lebt. Sie streift einen voluminösen schwarzen Rucksack von den Schultern, schält Hals und Haare aus ihrem Schal, setzt sich. Sie wirkt entspannt, obwohl sie sagt, dass sie hundemüde ist. Die Abgabe des Ulrike-Meinhof-Manuskripts, an dem sie seit dreieinhalb Jahren arbeitet, steht unmittelbar bevor. Jutta Ditfurth ist 53 Jahre alt. Sie sagt: „Ich hatte viele Hoffnungen, und ich habe viele Hoffnungen. Jetzt muss ich sortieren, was zu welcher Kategorie gehört.“ Ihr Haar ist rotbraun, darunter hellblaue Augen, mit viel Spiel in den Brauen.

Es gibt Menschen, die sagen, dass die Grünen mit Jutta Ditfurth im Vorstand nie eine Chance gehabt hätten, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Wahrscheinlich haben sie Recht, aber es gibt auch Menschen, die immer noch finden, dass der Zweck nicht alle Mittel heiligt, schon gar nicht, wenn er Macht heißt. Parteimitglieder haben ihr die Veruntreuung von Geldern vorgeworfen und später zugegeben, dass die Vorwürfe aus der Luft gegriffen waren, um ihre Position zu schwächen. Parteimitglieder haben ihren Rücktritt gefordert, als sie sich dafür aussprach, die „politischen Gefangenen“ der RAF zu amnestieren und auf die Rolle des „Staatsterrorismus“ der BRD hinwies, 1977, im Deutschen Herbst. Ein Zeitungsleser erstattete Anzeige gegen sie, nachdem sie in einem Interview gesagt hatte, sie halte zwei Abtreibungen im Laufe eines „lustvollen, knapp 20-jährigen Geschlechtslebens“ für „relativ wenig“. Die Ermittlungen wurden eingestellt.

„Jutta Ditfurth hat etwas Gnadenloses, auch gegen sich selbst“, schrieb „Die Welt“ über sie, und: „Aufgeben wird die kompromisslose Jutta wohl noch nicht.“ Das war 1986. Fünf Jahre später verließ sie die Grünen, aus Protest. Aufgegeben hat sie nicht. 2001 wurde Jutta Ditfurth für die Wählergemeinschaft Öko-LinX-Antirassistische Liste in den Römer, das Frankfurter Stadtparlament, gewählt. Ihr zentrales Anliegen bleibe der Aufbau von gesellschaftlicher Gegenmacht, einer interventionsfähigen linken außerparlamentarischen Opposition, sagt Jutta Ditfurth in der Frankfurter Kneipe.

Wie wird so eine links? Beide Eltern gehören zum deutschen Adel, „wobei ich Glück hatte, weil ich die schwarzen Schafe erwischt hatte, die sogar Sozis wählten, was die Verwandtschaft abscheulich fand“. Der Vater, Hoimar von Ditfurth, testet an seiner ältesten Tochter seine wissenschaftlichen Texte auf Verständlichkeit. Bei Auseinandersetzungen beschwichtigt er sie mit liebevollen Worten. Und er sagt: Ich kenne dich besser als du dich selbst.

Jutta Ditfurth verschränkt die Arme vor der Brust. „Natürlich ist das aus heutiger Sicht töricht, aber damals habe ich Mitschüler beneidet, die richtig ungebildete, reaktionäre Eltern hatten, denen sie mit 14 Jahren mental über den Kopf gewachsen waren.“ Sie habe nicht kapiert, was das für die anderen Kinder bedeutet haben muss. „Sich aus einer bildungsbürgerlichen Erziehung zu emanzipieren, fand ich viel komplizierter.“ Sie spricht von den „Manipulationstechniken“ ihres Vaters, dem Psychiater, vom „feinen Besteck der Herrschaftstechnik“, vom Kampf, den sie geführt hat, um ein freier Mensch zu werden, den sie bestehen musste – und gewann. „Ein gutes Training für heute“, sagt sie, „in vielfacher Hinsicht“.

Dass die Tochter aus adeligem Hause nicht reich ist, sondern im Gegenteil ein Zimmer mit einem ihrer drei jüngeren Geschwister teilt, glaubt ihr kaum jemand. In der Schule halten Kinder ihren Arm fest, ritzen die Haut an, um zu sehen, ob blaues Blut fließt. In den 70er Jahren verdichtet sich das Misstrauen zum politisch präziseren Generalverdacht, „privilegiert“ zu sein. Jutta Ditfurth sagt, das habe sie verletzt, zumal sie sich nicht wehren konnte. „Das traf ja zu, aber anders, denn das größere Privileg bestand darin, dass es zu Hause viele Bücher und Anregungen gab und ich die Ausbildung kriegte, die ich haben wollte – bei Mädchen war das in der Zeit nicht selbstverständlich.“ Sie studiert. Soziologie, Politik, Kunstgeschichte, Wirtschaftsgeschichte und Philosophie, in Heidelberg, Hamburg, Freiburg, Detroit, Glasgow und Bielefeld. Sie erlebt den schottischen Bergarbeiterstreik 1973/74, der eine Regierung stürzt, die Bewegung der Black Panther in den USA. Im Jahr, in dem sie ihr Studium als Diplomsoziologin in Heidelberg abschließt, werden Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe tot in ihren Zellen in Stuttgart-Stammheim aufgefunden.

Die Familie hat selten länger als ein paar Jahre am Stück am selben Ort gelebt, woraus sich für das Mädchen „Sonderrollen“ ergeben haben, Trennungen und Isolation. „Ich musste als Kind immer wieder flach wurzeln, in kürzester Zeit die nötige Infrastruktur haben, um existieren zu können“, sagt sie. Dass sie diese Fähigkeit bis heute besitzt und für eine Stärke hält. Dass darin ein Stück Befreiung steckt. Die Wurzeln, die sie in der Politik schlägt, reichen umso tiefer, stoßen auf Marx und Engels, auf Simone de Beauvoir und Herbert Marcuse, nähren später ihr Engagement in der Anti-Atomkraft-Bewegung, in Brokdorf, Grohnde, Malville.

Es gibt noch die Schulhefte, in denen das Mädchen Bilder und Zeitungsberichte über das Ende des Prager Frühlings gesammelt hat und über den Vietnamkrieg. Jutta Ditfurth sammelt, archiviert, ordnet, seit Jahren schon. Man stellt sich eine Wohnung vor, deren Wände ringsum mit einer dicken Papierschicht isoliert sind, irgendwo dazwischen vielleicht auch der Zettel, auf dem das Kind die Vor- und Nachteile abgewogen hat, Junge oder Mädchen zu sein, „als hätte ich eine Wahl“.

Sie erzählt, dass sie neulich in einer Umfrage gelesen hat, Männer bevorzugten den Frauentyp „Elfe“ – „das zarte, ätherische, überirdische Wesen, das man beschützen muss“. Sie sagt, dass sie dabei an „gewisse Viva-Moderatorinnen" denken musste, „an die mit den Quietschentchenstimmen“. Frauen, die signalisieren: Nimm mich nicht ernst! Ich bin eine Elfe! „Es gibt junge Frauen, die nicht kapieren, dass emanzipatorische Erfolge sofort kassiert werden, wenn es kein Bewusstsein und keinen Widerstand mehr gibt.“ Sie erzählt von einem Test, den sie hin und wieder macht, „eine Spielerei“, die darin besteht, normal und freundlich mit einem männlichen Gegenüber zu sprechen, ohne dabei zu lächeln, sich dem Ritual zu verweigern, das häufig mehr mit Unterwerfung als mit Freundlichkeit zu tun hat. „Das löst bei bescheuerten Typen ziemlich schlechte Laune aus.“

Die bürgerliche Frauenbewegung, sagt Jutta Ditfurth, nütze nur einer kleinen Elite von Frauen. „Mit neuen Herrschaftstechniken wie ,Gender Mainstreaming’ werden Sozialisationsvorteile von Frauen wie soziale Kreativität, Kommunikationsfähigkeit und Verantwortlichkeit für den Kapitalismus abgeschöpft.“ Das wiederum helfe, das System zu stabilisieren und verschlechtere die Lage von Migrantinnen und von Frauen in „proletarischen oder prekären Verhältnissen“, sagt sie, und wählt Begriffe, die es zunehmend schwer haben, ihren Weg zu Hörern zu finden, die im leeren Rauschen der Postmoderne treiben. „Die emanzipatorische Grundforderung der Befreiung des Menschen, weiblich wie männlich, und die soziale Gleichheit aller Menschen steht so lange auf der Tagesordnung, bis sie eingelöst ist.“

Sie vergisst die Falafel, die unter ihren gefalteten Händen auf dem Teller liegt, während sie von einer Delegationsreise nach Kuba erzählt, in den 80er Jahren, von ihrer Begegnung mit Fidel Castro, der sie um 23 Uhr aus dem Bett holen ließ, um sich mit ihr über alternative Energien zu unterhalten. Das Gespräch endete, als es draußen hell wurde. Sie spricht vom freundlichen Umgang, von kritischer Solidarität. Dann kehrt sie zurück nach Frankfurt, wo sich vor dem Fenster der eiskalte Regen weigert, als Schnee vom Himmel zu fallen, wo der Umgang ein anderer, härterer, unbarmherzigerer ist. „Das hat mit diesem verfluchten deutschen Untertanengeist zu tun“, sagt sie, „der Erziehung zur Subalternität in diesem Land“. Sie trägt einen schwarzen Pullover, keinen Schmuck, kaum Make-up. Man könnte das als Askese bezeichnen. Oder als Konzentration auf das Wesentliche. Zu grünen Zeiten hat man ihr manchmal vorgeworfen, ihre Positionen nicht zu entwickeln, sondern „einfach zu haben“.

In seinem Buch „Wir sind die Wahnsinnigen. Joschka Fischer und seine Frankfurter Gang“ schreibt Ex-„Titanic“-Redakteur Christian Schmidt: „Niemanden verabscheuen Renegaten bekanntermaßen mehr als denjenigen, der nicht mit ihnen zusammen ins gegnerische Lager ziehen will. Denn alle, die sich der Anpassung verweigern, führen allein durch ihre Existenz jedermann vor Augen, dass dieser Schritt keinesfalls so alternativlos ist, wie es die Überläufer alle Welt glauben machen wollen.“

In der Frankfurter Presse ist Jutta Ditfurth aus dem Zentrum an den unteren Rand der Berichterstattung gerückt. Aber der Platz reicht aus, um von einer Frau zu berichten, die unverdrossen gegen eine Verschärfung der städtischen Gefahrenabwehrverordnung eintritt, die einem Stadtverordneten „verlogenen Antisemitismus“ vorwirft, der die Rede des sächsischen CDU-Abgeordneten Homann, der Juden und Deutsche als „Tätervölker“ bezeichnet hatte, als „nicht antisemitisch“ verstanden wissen will, und die öffentlich macht, dass es sich beim Firmengründer des Pharmaunternehmens Merz, nach dem die Stadt eine Straße zu benennen gedenkt, um das NSDAP-Mitglied Nummer 5116318 handelt. Jutta Ditfurth wird verwarnt, wenn sie das Römer-Bündnis als „städtische Terrorgruppe“ bezeichnet und den „Haushalt des sozialen Grauens“ kritisiert. Sie wird gerügt, wenn sie Hartz IV mit dem „Reichsarbeitsdienst“ vergleicht. Sie macht einfach weiter wie immer. Zeiten, in denen sozialer Widerstand schwach ist, sagt sie, seien wie Wellentäler, in denen ein guter Surfer Anlauf nimmt.

Ihr Werdegang hat einen gewissen Seltenheitswert. In der Politik bilden diejenigen die Ausnahme, die schon während der 70er und 80er Jahre auf der Straße waren und sich im Laufe der vergangenen 30 Jahre weder arrangiert noch resigniert haben. „Manche mussten sich zurückziehen, weil sie schwer krank geworden sind“, sagt Jutta Ditfurth. „Die können nicht mehr kämpfen, aber sie sind anständig geblieben. Sie sind keine Verräter an sich selbst geworden.“

Neben ihrer Arbeit in der Stadtverordnetenversammlung beteiligt sich Jutta Ditfurth an der Organisation der 1. Mai-Demonstrationen in Berlin, plant politische Aktionen und unterhält Kontakte zu Freunden und Netzwerken in Griechenland, Skandinavien, Lateinamerika und in den USA. „Die relative Freiheit, die in diesem Leben möglich ist, liegt darin, sich mit anderen für eine radikale Umwälzung der Verhältnisse, für eine humane Gesellschaft zu organisieren und dabei so klug zu sein wie möglich.“ Sie sagt, dass sie nicht scheitern kann, wenn die Befreiung im Tun liegt. Sie sagt: „Ich fände es viel anstrengender zu verzweifeln, als mich weiter zu engagieren.“

Die Zeit der Abrechnung mit den Grünen ist vorbei. Richtig sei es trotzdem gewesen, sagt sie, auch die Serie mit dem Titel „Zahltag, Junker Joschka! So grün war mein Traum“, die sie in zehn Teilen in der „Neuen Revue“ veröffentlichte. Andere publizistische Foren hätten sie nach ihrem Austritt bei den Grünen mit einem „Schreibverbot“ belegt. „Aber die aufklärerische Seite“, sagt sie, „ist inzwischen erledigt. Wer aufgeklärt werden wollte, ist es. Heute haben die Grünen die Wähler, die sie verdient haben, und umgekehrt.“ Sie sagt, dass sie grinst, wenn ihr Leute von früher begegnen, weil sie die Straßenseite wechseln, wenn sie sie kommen sehen. Neulich auf dem Paulsplat brüllte ein Mann im Trenchcoat sie an: „Na, da habt ihr’s ja mal wieder geschafft! Da bist du aber glücklich!“ Jutta Ditfurth sagt, sie habe ihrem irritierten Bekannten aus Köln später erklären müssen, dass an diesem Tag die Olympia-Entscheidung gegen Frankfurt gefallen und der Mann im Trenchcoat Johnny Klinke war, ein Freund von Joschka Fischer und Gründer des Tigerpalasts.

Frankfurt. Ausgerechnet. Und immer wieder. Als Kind hat sie sich in Italien verliebt, später in Skandinavien, Glasgow, Detroit. Sie sagt, dass sie nicht geblieben ist, weil sie – brav – das Studium in Deutschland fertig machen wollte, sondern weil sie begriffen hatte, „dass man am besten kämpfen kann, wo man die Verhältnisse am genausten kennt und sich in der Sprache auseinander setzt, die man am besten spricht, in der man auch träumt“. Sie schnürt den Schal um Hals und Haare. Sie muss zu Fuß nach Hause gehen, das Fahrrad ist kaputt, aber das macht nichts. Irgendwie geht es immer weiter. Manchmal, sagt Jutta Ditfurth, träume sie auch auf Englisch.

Karin Ceballos Betancur

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