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Kultur: Die Raupe in den Aktenbergen

Auferstanden aus der Weltkriegswüste: Zum 100. Geburtstag des Schriftstellers und Zeichners Felix Hartlaub.

Ein langes Zögern vor der Entscheidung, den erfolgreichen Vater zu übertrumpfen: So könnte man das kurze Leben des Felix Hartlaub zusammenfassen, der heute vor 100 Jahren in Berlin geboren wurde und als 31-Jähriger in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs in der Trümmerwüste der Stadt verschwand. Die Skizzen, Novellen und Briefe, die er hinterließ, bezeugen, welches Talent dabei verlorenging.

Sein Vater, der Kunsthistoriker Gustav Friedrich Hartlaub, wollte wie Jean Piaget das Wesen des Kindseins erforschen, insbesondere dessen „genial-künstlerische“ Variante. So ging der zeichnende Sohn, der wie seine Schwester Geno bereits in früher Jugend schrieb, in das Buch „Der Genius im Kinde“ ein. Die Entwicklung des grüblerischen Einzelgängers beförderte der Aufenthalt an der reformorientiert-elitären Odenwaldschule von Paul Geheeb. Dort entstand auch eine enge Freundschaft mit der Familie des späteren DDR-Kulturministers Klaus Gysi.

Kurz vor dem Abitur notiert Hartlaub: „Die Selbstbeobachtung sucht mich heim wie vielleicht noch nie, vermiest jede kleinste Regung von menschlichem Elan.“ Isoliertheit kennzeichnet auch seine Berliner Jahre als Student der Geschichte. Einzigartig seine Schlaglichter auf das Universitätsmilieu, die Kommilitonen und Zimmervermieter: „Trotzige Routine des Nomaden, Improvisationstalent. Große Märsche, Fahrten, er beherrscht Stadtplan, Verkehrsmöglichkeiten bald glänzend. Verwilderung, keine saubere Wäsche mehr, am Ende sieht er wie ein Räuber aus, dem die Wirtinnen nur ungern öffnen.“

Nach dem Frankreichfeldzug 1940 bringt ihn sein Doktorvater in Paris als Sachbearbeiter bei der Archivkommission des Auswärtigen Amtes unter. Die Aufzeichnungen des Soldaten aus der von ihm verehrten Hauptstadt Europas zeigen die Zäsur des verbrecherischen Krieges. Es ist ihm peinlich, als Deutscher erkannt zu werden, aber ebenso peinlich, in Zivil so zu tun, als gehöre er nicht dazu.

Nach einem Aufenthalt in der rumänischen Erdölstadt Ploiesti wird er überraschend versetzt: Hartlaub wechselt in den Bendlerblock zur Abteilung „Wehrmachtskriegsgeschichte“, später ins Hauptquartier, die „Wolfsschanze“ bei Rastenburg. In diesem „Sperrkreis“ arbeitet er am Kriegstagebuch der Wehrmacht mit und erhält äußerst geheime Informationen: „Weltuntergang als Aktengeraschel“" (Durs Grünbein). Es muss ihn viel Kraft gekostet haben, trotz Überwachung so präzise Tagebuchblätter und Skizzen zu verfassen , wie sie in dem Band „In den eigenen Umriss gebannt“ (Suhrkamp 2007) enthalten sind.

Monika Marose, Hartlaubs Biografin, ist überzeugt, dass bei Felix’ Besuchen im Hause des kommunistischen Widerständlers Klaus Gysi auch über den Sperrkreis gesprochen wurde. Von der Villa am Schlachtensee trat Hartlaub seine letzte Dienstfahrt nach Spandau an. Bis heute bewahren Gabriele und Gregor Gysi die Familienüberlieferung auf. Einer seiner Wiederentdecker, der Lyriker Durs Grünbein, beschreibt den Habitus Hartlaubs so: „Aus dem Schmetterling, flügelschlagend im Zwischenkriegsfrühling, wurde durch Schrumpfung die froststarre Larve, der einsame Reisende, der isolierte Student. Zum Schluss kamen das Raupenstadium, Schleichgang als stummer Zeitzeuge durch Generalsstäbe und Verwaltungstrakte, wo er sich in den Hauptquartieren an wechselnden Orten durch Berge von Akten fraß.“ Die Frucht dieser Verpuppungen sind Dokumente einer aus den Fugen geratenen Welt. Markus Bauer

Das Literaturhaus Berlin feiert am heutigen Freitag ab 20 Uhr eine Lange Nacht zum 100. Geburtstag von Felix Hartlaub mit Karl Corino, Arnold Stadler, Jörn Schütrumpf, Gabriele Gysi und Klaus Stiller.

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