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Kultur: Die Reformschule 2004

Voll drauf mit ruhiger Hand: Wie sich unsere Spitzenpolitiker fit machen für die Zukunft / Ein Sportstück von Moritz Rinke

Es war kein leichtes Jahr. Auch nicht für die Volksvertreter, die sich jeden Morgen zu Reformübungen versammelten, bevor es in die Gremien ging. Die Übungen fanden in einem Raum statt mit folgenden Geräten: Ein Rohr, das so genannte „Reformrohr“ und das „Metaphernbecken“, ein vasenartiges Wasserbassin, in das man hineinsteigen muss, damit einem das Wasser dann bis zum Halse steht. Meist schickte Reformschulleiter und Kanzler Gerd Rödel Frau Meiererkel ins Metaphernbecken, damit sie mal sieht, wie das ist. Ein großes Schwert mit der Inschrift „Für Subventionsabbau“ lag jeden Morgen bereit. Ferner eine Kirchentür, genannt die „Luthertür“, daneben eine gewaltige Hand aus Gips: „Die ruhige Hand“, ein Punchingball mit der Aufschrift „DGBFresse“. Vorne ein Strauß Mikrofone internationaler Sender.

Gerd Rödel tritt vor die Kollegen Trittel (Umwelt), Schmeichel (Finanzen), Renate Hit (Gesundheit), Klemmt (Wirtschaft), Klaus-Uwe (Generalsekretär), den dicken Dussmann (Kultur) und Meiererkel (Opposition). Der Rest fehlt, weil an diesem Morgen Josef Wischer zum fünften Mal vor den Traualtar tritt.

RÖDEL: Guten Morgen! Wischer kann es nicht lassen! Ohne mich! In was der immer reinrennt! Ich erzähl euch erst mal einen Witz. Warum dürfen Gerd Rödel und Josef Wischer nie zusammen im Flugzeug fliegen? – Wenn’s abstürzt, muss der Staat neun Witwenrenten zahlen! (Lacht sich schlapp) So. Zuerst singen! Auch die Opposition!

ALLE: Ein neues Lied, ein besseres Lied / O Freunde, will ich euch dichten! / Wir wollen hier auf Erden schon / Das Himmelreich errichten. /Zuckererbsen für jedermann / Sobald die Schoten platzen!

RÖDEL: Danke. Hinsetzen.

Hans Schmeichel haut in die DGB-Fresse.

RÖDEL: Hans!! Es wird nicht einfach so in die DBG-Vorrichtung geschlagen! Nur nach Absprache!

HANS SCHMEICHEL: Ich kürz mal was. (Haut mit dem Schwert für Subventionsabbau etwas von der Deko ab)

RÖDEL: Hans, du bist kein Samurai, sondern Finanzminister! Leg das Schwert weg! (Zu Klemmt) Ist der krank, oder was?

Frau Meiererkel stellt sich eigenmächtig vor die internationale Presse.

MEIERERKEL: Ich kann den Bürgerinnen und Bürgern und der Industriebranche und auch Opel immer wieder nur zurufen: Geht nicht alle nach Polen!

RÖDEL: Weg da von der Presse! Niemand geht nach Polen! Das ist ja ein Saustall hier. Hans haut schon wieder in die DGB-Vorrichtung! Ich bring euch jetzt auf Linie!

KLAUS-UWE: Ich möchte heute Thesen an die Luthertür schlagen üben.

RÖDEL: Nicht jetzt, Klaus-Uwe. Wir müssen erst mal Thesen haben. Meiererkel, Sie stellen sich ins Metaphernbecken!

MEIERERKEL: Ich geh nicht ins Metaphernbecken! Ich muss Karstadt-Quelle retten!

RÖDEL: Die werden nicht gerettet! Karstadt-Quelle kann mich mal! Ab ins Becken! (Meiererkel steigt wütend ins Metaphernbecken.)

MEIERERKEL: Meine Frisur wird nass!!

Alle lachen. Hans Schmeichel nimmt die „Ruhige Hand“ und haut damit Meiererkel auf den Kopf und schreit „Kopfpauschale, Kopfpauschale“.

RÖDEL: So! Kleine Sprachübung zwischendurch. Sprache fließt seit Kant ins Bewusstsein!

DER DICKE DUSSMANN: Hegel, Gerd, Hegel!

RÖDEL: Was? Nee, nich Kegeln!

TRITTEL (tritt feierlich vor) Ich fordere hiermit das Dosenpfand!

Hans Schmeichel springt durch den Übungsraum und kürzt mal wieder wild um sich.

RÖDEL: Hans, stehen bleiben! Der Typ macht mich wahnsinnig, der soll nicht die Deko kürzen, sondern... Scheißkabinett! Dussmann ins Reformrohr!

DER DICKE DUSSMANN: Bitte nicht, nicht immer die Kultur ... Habt ihr schon gehört, Inge Meysel ist tot!

RÖDEL: Lenk nicht ab! Durch’s Rohr kriechen!

Dussmann kriecht ins Rohr.

DER DICKE DUSSMANN IM REFORMROHR: Ich pass da nicht durch! Wie soll denn da das Volk folgen, wenn nicht mal wir...?!

RÖDEL (ruft ins Rohr) Was hast du gesagt, Dussmann?

DER DICKE DUSSMANN IM REFORMROHR: Oh, es ist ganz toll hier, kaum Stau, ich sehe Licht am Ende des Rohres... es wird alles gut, ich muss nur noch... (Stille)

KLAUS-UWE: Darf ich jetzt die Thesen an die Luthertür... ?

RÖDEL: Später, Klaus-Uwe. Erst die Sprachübung! „Ich will es, du willst es, er/sie/es wollen es. Wir wollen es.“ Klemmt, bitte!

KLEMMT: Ich will es, aber ich weiß, dass Trittel es gar nicht will, der tut immer nur so, ich kann gar nicht sagen, „du willst es“ und dabei Trittel angucken, da wird mir ganz schlecht bei so viel Verlogenheit.

TRITTEL: Klemmt, du alte Sau, ich mach dich fertig, ich hab beim Adventstee bei dir Kontoauszüge geklaut! Ha!

KLEMMT (schlottert) Gib sie wieder her, Trittel!

RENATE HIT: Ich denke gerade nach über eine Kondomsteuer!

RÖDEL: Kondomsteuer?! Bist du bescheuert, Renate?

RENATE HIT (schreit) Wir brauchen aber auch mal Kinder!!!

HANS SCHMEICHEL (steht mit dem Schwert vor Trittel wie „Der Letzte Samurai“) Du hast ’ne schwarze Putzfrau!!!

MEIERERKEL (aus dem Metaphernbecken) Ich begrüße Rödels Übungen nicht! Gluck. Wir sind am Ende aller EU-Tabellen! Wir müssen wieder globaler werden! Gluck, gluck. Unter mir taucht was! (Zieht Horst Köhler an die Wasseroberfläche) Kenn ich nicht. Den nehmen wir als Bundespräsidenten!

RÖDEL: Meinetwegen. Genossen, guckt euch mal die Frisur an! Mit so ’ner Frisur wird’s global aber schwierig, Meiererkel!

TRITTEL: Soll ich etwa Safttüten besteuern?!

RÖDEL: Mir reicht’s! Wir fahren fort mit Heileurythmie. Ich war mal mit Terror-Otto in Dornach. Alle aufstellen!

Alle stellen sich auf. Meiererkel rubbelt Köhler trocken, plötzlich, von hinten heranschleichend mit einem Fön, Edmund Räuber aus Bayern.

MEIERERKEL: Schon wieder in Berlin?

EDMUND RÄUBER: In München ist Fön.

MEIERERKEL: Macht mir nix aus.

EDMUND RÄUBER: Schau’n mer mal! Wirft den Fön ins Metaphernbecken und läuft schnell weg. Meiererkel stehen schlagartig die Haare senkrecht nach oben.

RÖDEL: Na, neue Frisur, Meiererkel? (Lacht) Also: „R“ geht so.

Er macht rotierende Armbewegungen und stößt „Rrrrr“ dabei aus. Dann „E“ usw.

KLEMMT (zu Trittel): Erklär mal Hartz IV.

TRITTEL: Lass mich.

KLEMMT: Pisapflaume!

Sie gestalten alle heileurythmisch das Wort Rrrreeefffoorrrmm.

RÖDEL: Das sieht ja total beknackt aus! Morgen, Frau Hit, kommt das Wort „Praxisgebühr“ dran! Nur Ärger!

Klaus-Uwe tritt feierlich vor die internationale Presse.

KLAUS-UWE: Desiree Nick hat gestern auf RTL Känguruhoden gegessen und ist eine Runde weiter!

RÖDEL: Was soll das, Klaus-Uwe?

KLAUS-UWE (verzweifelt): Ich schlag jetzt 95 Hoden an die Luthertür, wenn von euch nie was kommt!!

RÖDEL: Bist du gaga?! Hans, komm mal her.

SCHMEICHEL: Was is?

RÖDEL: Was ist deine Aufgabe?

SCHMEICHEL: Kürzen!!!

RÖDEL: Hab ich mir fast gedacht. Nimm mal dein Werkzeug und sorg dafür, dass Dussmann und die Kultur durchs Rohr kommen.

DER DICKE DUSSMANN IM REFORMROHR: Hilfe!

SCHMEICHEL: Ruhe im Rohr!!! Ich ... (kurze Heileurythmie-Einlage) ... kkkkküürzzzz dich, Dussmann! (Ruft ins Rohr) Willste vorher noch ’ne Riesterrente abschließen!?

Hans Schmeichel steigt, das Schwert für Subventionsabbau voran, ins Rohr.

RÖDEL: Nächste Übung: Landtagswahlen verkraften!

Rödel präsentiert einen blauen Bildschirm, auf dem die typischen schwarzen und roten Balken von Wahlabenden erscheinen.

RÖDEL: Alle davor setzen!

Es erscheinen Prozentbalken, wobei die roten nur auf 3 Prozent ansteigen und die schwarzen ratzfatz nach oben schießen. Die Teilnehmer werden hysterischer.

RÖDEL: Ganz tief durchatmen. Ein – und aus. Alles wird gut. Ein – aus.

Hoppla, rot plötzlich, nach unten in den Minusbereich. Schwarz über den Rand hinaus wie eine NASA-Rakete.

MEIERERKEL: Jaaaaaa! Geil!!!!

KLEMMT: Ich halt das nicht aus! Wir waren mal Volkspartei! Das ist ja Horror! Gerd, stell die Glotze aus! Wir sind im Minusbereich!! Geht denn das überhaupt, Klaus-Uwe! Eine Volkspartei ohne Volk, ich lach mich tot! Ich hab heut nacht geträumt, August Bebel steht vor mir und schreit: „Hier spricht Bebel! Seid ihr wahnsinnig, Klemmt?! Morgen nacht erscheine ich dir zusammen mit Liebknecht!!“

TRITTEL: Soll ich schnell die Safttüten besteuern?!

RÖDEL: Ruhe! Wir reformieren mit ruhiger Hand weiter. Meiererkel wird sich noch wundern! Der wird nachts Adenauer erscheinen!

Plötzlich tritt ein Mann mit langen weißen Haaren in den Raum.

DER MANN MIT DEN WEISSEN HAAREN: Da bin ich nun.

RÖDEL: Hä? Wer ist denn das? Bist du Adenauer?

Der Mann mit den weißen Haaren schüttelt den Kopf.

MEIERERKEL: Bist du Harald Schmidt??

DER MANN MIT DEN WEISSEN HAAREN: Friedrich Schiller! In diese hohle Klasse muss ich kommen.

RÖDEL: Der mit der Glocke?

FRIEDRICH SCHILLER: Ja. Wie steht es um die Menschenwürde?

RÖDEL: Prima. Ich hab mal bei Beckmann Rilke auswendig! Soll ich dich bei Kerner? So. Linke Hand vorstrecken! Rechtes Bein heben! Und jetzt auf das rote SPD-Logo zuhüpfen! Mach mal mit, Schiller! Willste danach ’nen Ein-Euro-Job?

RENATE HIT: Können wir nicht lieber rudern? Ich bin Fan von Birgit Fischer! Kanu in Athen!

RÖDEL: Hüpfen, Renate!

Sie hüpfen alle, auch Friedrich Schiller, soweit ist es schon gekommen. Die Übung wird ebenso in der Waldorfpädagogik angewendet, um die innere Ausrichtung zu schulen. Die Tür geht auf und Literaturnobelpreisträger Heiner Hanf kommt herein.

HEINER HANF: Gerd, ich muss mit dir reden. Du weißt, ich bin der Sozialdemokratie seit Willy...

RÖDEL: Halt die Klappe, Heiner! Du hast keine Ahnung von Realpolitik! Du gehst gleich auch ins Rohr! Schiller, guck mal, Kollege von dir, der hat „Die Blechröhre“ geschrieben.

FRIEDRICH SCHILLER: O, schnöder Titel. Was dichten nur die Menschen?

RÖDEL: Alle hüpfen!

MEIERERKEL: Ich hüpf da nicht mit. Das ist die falsche Richtung, ich hab dafür zu sorgen, dass wir in die andere Richtung hüpfen! (Hüpft mit Horst Köhler unterm Arm in die andere. Fällt hin) Scheißübung. Ich male euch jetzt das neue Steuersystem auf’n Bierdeckel!

RÖDEL: Ab ins Becken!

Bälle fallen in den Übungsraum, die Nationalhymne erklingt, Olli Bierhoff & Jürgen Klinsi schieben ein Tor herein, auf dem „Tschechien B-Mannschaft“ steht.

RÖDEL: Erinnert ihr euch? Los, reinschießen! FC Deutschland 06!!

KLINSI: Alles ist super. Hier ist eine ganz tolle Stimmung. Ich bin total optimistisch. (Zeigt auf Friedrich Schiller) Ist das Sepp Maier?

Alle versuchen den Ball ins Tor mit „Tschechien B“ zu schießen, aber niemandem gelingt es, Schiller fällt hin. Meiererkel springt aus dem Becken und tritt mit Köhler unterm Arm gegen Schiller, als wolle sie Schiller ins Tor schießen.

RÖDEL: Stop! Nicht Schiller, den Ball, Meiererkel! Ihr könnt das alle nicht. Gurkentruppe!

KLAUS-UWE: Ich kann nur diese Politik. Entweder ihr geht mit oder ich geh alleine. Zitat: Klaus-Uwe.

RÖDEL: Was soll das?

KLAUS-UWE: Ich schlag diesen Satz jetzt an die Luthertür!

RÖDEL (haut ihm eine) Das schlägt nur einer an die Luthertür! Ich, der Reformrödel!!!

Hinten, wo eben die desaströse Wahlgraphik war, sind jetzt Szenen von Montagsdemos zu sehen. Familien plündern Supermärkte, Banken in Flammen. Der Literaturnobelpreisträger steigt fatalistisch zu Dussmann ins Rohr.

DER DICKE DUSSMANN IM ROHR: Hallo, Heiner. Sind wir zu schwer geworden in Geist und Fülle, um uns aufzuschwingen und durch das Zukunftsloch zu schlüpfen? Liebe Inge Meysel! Schmeichel steckt fest, und ich weiß, Heiner will helfen, der alte Genosse, die Sache mit mir durchzudrücken. Aber je mehr er drückt, um so näher kommt mir Schmeichel, und so drück ich Schmeichel gegen Heiner, und Heiner drückt gegen Schmeichel, weil ihm jetzt Trittel folgt, den er hasst. Oh, unser Spiel ist absurd geworden hier im Rohr. Ich sehn mich so nach Bewegung. Wann kommt er, der unser aller Arsch und unsere Stühle in die Winde feuert? Lass uns neu anfangen, Inge!

Der Regierende Bürgermeister von Berlin kommt herein, Klaus Wow-Binichbreit.

KLAUS WOW-BINICHBREIT: Is hier noooch Paaarty? Rittmus??? Nööö? Dann ... dann geh ich wieder. Muss noch Geschichte üben. Habt ihr übrigens gehört: Der Wischer ... der ist schon wieder geschieden! Hetero-Idioten. (Wankt weg)

Meiererkel trainiert wie besessen mit der „Ruhigen Hand“. Schiller wird, bitterlich weinend, von Klinsi & Bierhoff aus der hohlen Klasse geschmissen.

MEIERERKEL: Nicht weinen, Friedrich, die Menschen wollen die Wende. Ich bin die Wende. Ich bin Adenauer plus Arafat mit Thatcher. Ja, da staunt ihr, Sabine Christiansen und ich, wir sind die neue Sexmacht in the city...

Während Meiererkel die Wende heraufbeschwört aus dem Geist der neuen Sexmacht, sacken plötzlich die schwarzen Balken auf den Bildschirmen ab und die roten steigen.

RÖDEL: Jaaaaa, die Wende!!! Ha!! Ich hab gewonnen!!!

Rödel pfeift energisch wie der berühmte Schiedsrichter Pierluigi Collina in eine Pfeife. Alle kriechen aus dem Rohr, Meiererkel ist ganz bedröpelt.

RÖDEL: So. Morgen üben wir Stehen! Ich zeig euch, wie man steht! Ich bin der Steher! Tschüß.

ALLE: Tschüß.

RENATE HIT (zu Trittel): Ich fand’s gut heute, gluck. Und du?

Sie gehen alle aus der Reformschule. Nur Gerd Rödel bleibt einfach stehen.

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