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Kultur: Die Republik der Musik

Glücklicher Augenblick: Daniel Barenboim dirigiert in der Berliner Philharmonie das West-Eastern Divan Orchestra

Am Ende, lange nachdem sich das Publikum in der Philharmonie zu stehenden Ovationen erhoben und Barenboim wieder und wieder mit großen Gesten auf die Musiker des East-Western Divan Orchestra hingewiesen hat, derweil Bühnenarbeiter von rechts hinten eine Harfe hereintragen, nachdem dann wieder Ruhe und Stille eingekehrt sind und wie aus dem Nichts die pianissimo-Sexte des „Vorspiels zu Tristan und Isolde“ erklingt, „langsam und schmachtend“, wie Wagner selbst es vorschrieb, treibend dagegen, mit orchestraler Kraft wenig später, als dann die Altistin Waltraud Meier aufsteht, eine Freiheit, die das Orchestervolk nun führen wird – da also beginnt der Anfang von Isoldens „Liebestod“.

Und binnen weniger Sekunden knüpft sich, glücklicher Augenblick, in der Philharmonie ein Netz, das Zeiten und Räume umspannt: Das mittelalterliche Europa, in dem sich Gottfried von Straßburg von einer Liebesgeschichte des Anglonormannen Thomas von Britannien inspirieren lässt. Das hohe 19. Jahrhundert, in dem Richard Wagner an seine Liebe zu Mathilde Wesendonck denkt und den Stoff für ein neues Musiktheaterstück bearbeitet; der Antisemitismus, der Wagner nachzuweisen ist, sagte Barenboim einmal, gehörte seinerzeit fast zur Normalausstattung des Bildungsbürgertums. Barenboim selbst schließlich, der 2001 in Israel als Zugabe einen Auszug aus dem „Tristan“ spielen ließ, trotz heftiger Proteste im Publikum. Und nun ein Orchester dirigiert, dessen reines So-Sein zeigt, was es mit dem aufklärerischen Urgrund des Symphonie-Genres und seiner Verwirklicher auf sich hat: Egalité, tatsächlich. Bei aller Autonomie des Einzelnen.

Im West–Eastern Divan Orchestra spielen derzeit neben einigen Spaniern um die 40 Israelis und knapp 30 Angehörige arabischer Staaten. Das seit 1999 bestehende Ensemble, das seine Gründer Barenboim und sein verstorbener palästinensischer Freund Edward Said, nach der Gedichtsammlung des europäischen Kosmopoliten Goethe benannt haben, ist ein parapolitisches Projekt, eine Musik-Republik, in der möglich wird, was draußen, im richtigen Leben undenkbar scheint: die friedliche Koexistenz. Von zwei politischen Gedanken spricht ein vor wenigen Wochen erschienenes Orchester-Manifest: So gut wie alle Musiker unterschrieben, dass es „keine militärische Lösung für den Konflikt zwischen Israel und Palästina“ gebe, und dass die Schicksale beider Völker zugleich „untrennbar miteinander verbunden sind“.

Wie stark auch immer das eigene Streben nach Einflussphären weit über die des Orchestergrabens hinaus sein mag: Barenboim ist der ideale Mann für eine solche Unternehmung, dirigentischer Altmeister, diplomatisches Genie, das die Lage in Nahost intim kennt und in keinem Moment zu sturer Parteinahme bereit ist. Das Berliner Publikum honoriert seinen Einsatz mit minutenlangem Applaus, noch bevor der erste Ton erklingt. Und so beginnt ein Abend, dessen Sekundärwert viel höher zu veranschlagen ist als der unmittelbar musikalische.

Zumal bei einem solchen Programm, der 3. Leonoren-Ouvertüre und der Neunten von Beethoven – das eine Stück Schilderung einer Kerker-Existenz, in die von außen das rettende Trompetensignal klingt, das andere allerspätestens seit der Berliner „Freiheit“- (statt „Freude“) Umdichtung von 1989 die Hymne des vereinten, weltoffenen Europa.

Freilich hört man dem West-Eastern Divan Orchestra an, dass es nur in Probenphasen zusammenfindet und ihm das europäische Musik-Idiom womöglich (noch) fremd ist. In den Streichergruppen wird bei bewegteren Stellen wie dem auffahrenden Allegro in der Ouvertüre schnell gesäbelt. Kantilenen schwingen nicht so weich, wie sie es könnten. Und wenn es laut wird, kracht es schnell. Schwierig mag es zudem für die Musiker sein, allein auf das klassisch-romantische Repertoire zugreifen zu können. Die Konzentration darauf gehört indessen zu den Kernideen des Projektes. Zu gleicher Zeit ist dem Spiel des Orchesters anzuhören, wie klug Barenboim in den Proben gearbeitet haben muss. Deutlich werden die musikpädagogischen Zeigefinger ausgestreckt: herrliche Stimmenübergaben von hier nach da, im zweiten Symphoniesatz, Barenboim ein gelassener Feldherr, der das Geschehen ganz dem Orchester überantwortet. Alltagspraktisch-adornitisch hatte es in der Erklärung vom 8. August geheißen, dass man in der Musik die Präsenz von Gegensätzen akzeptiere und manchmal sogar die von subversiven Begleitstimmen – und mit anderen Ohren hört man den Kontrapunkt des Fagott, anfangs des letzten Satzes.

Die arrivierten Kollegen aus Deutschland, das Gesangsquartett mit Angela Denoke, Waltraud Meier, Burkhard Fritz und René Pape und der oft recht stark werdende Staatsopernchor, adeln die musikalische Seite des Projekts und ordnen sich dem höheren Zweck doch vollkommen unter. Und doch: Gerade die überweltlich schöne „Tristan“-Zugabe, gerade Meier, deren leuchtender Mezzosopran die Aufmerksamkeit fast zauberisch an sich bindet, lenkt das Ohr wieder auf die Musik: holde Kunst, die manchmal wohl tatsächlich in eine bessere Welt entrückt.

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