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© dpa

Die Riesen: Giganten der Sanftmut

Giganten, die durch die Großstadt stapfen, das ist eigentlich ein Motiv aus dem Horrorfilmfundus. Das Spektakel der wandernden Riesen aber wurde in Berlin zum Symbol des Friedens.

Vielleicht sollte man die Symbolik des Spektakels nicht allzu ernst nehmen. Da schwebt also am Tag der deutschen Einheit die kleine Riesin, die aus dem Osten gekommen ist, in ihrem grünen Kleidchen in die Arme des großen Riesen, ihres gütigen Onkels aus dem Westen. Alle jubeln, als sei in Gestalt dieser gigantischen Marionetten soeben das Lohngefälle zwischen den beiden Teilen der Republik aufgehoben worden. „Das Wiedersehen von Berlin“ hat die französische Straßentheatertruppe Royal de Luxe dieses bewegte, bewegende Rencontre am Brandenburger Tor getauft. Es ist ein Geschenk der Berliner Festspiele und ihrer „Spielzeit Europa“ zum Mauerfall-Jubiläum, ein Wiedervereinigungs-Märchen – mit Betonung auf Märchen und damit doch wieder nahe an der Wirklichkeit. Die Massen strömen nicht wegen irgendwelcher Symbole, sondern wegen der Show, der Schauwerte. Und die sind phänomenal.

Die wohl größte Leistung der Royal-de-Luxe-Künstler um ihren Mastermind Jean Luc Courcoult, abgesehen von der staunenswerten Logistik der viertägigen Stadtwanderung, liegt in der positiven Imagekorrektur der Riesen an sich. Die germanischen und griechischen Mythen nebst ihrer Märchennachfahren kennen sie nur als finstere Gesellen.

Im Theaterkanon sind Riesen weniger Sympathieträger, sondern Barbaren

Man muss man sich bloß mal ansehen, wie bei Homer der Laistrygone, also der Hüne Antiphates mit den Reisebegleitern des Odysseus umspringt („Gleich packte er einen von den Gefährten und bereitete ihn sich zum Mahle“). Auch im klassischen Theaterkanon sind die Riesen weniger Sympathieträger, sondern wie in Luigi Pirandellos „Die Riesen vom Berge“ grobe, muskelbepackte Barbaren, die keinerlei Ahnung von Kunst haben.

Aber der große Riese und die kleine Riesin, die Courcoult drei Tage durch Mitte wandern lässt, werden augenblicklich ins Herz geschlossen. Schon am Tag der sogenannten Vorzeichen radeln Berliner zum Brandenburger Tor, wo ein großer rostiger Anker liegt, und fachsimpeln im Tone des Selbstverständlichen über die Route der kleinen Riesin, als ginge es um den Weg des seligen Juhnke zur Stammkneipe. Da wirkt ein Wohlwollensvorschuss; viele kennen die Riesen-Bilder aus Nantes, der Heimat der Gruppe.

Eigentlich ein Motiv aus dem Horrorfilmfundus

Die Geschichte, die Courcoult seinen Puppen diesmal mitgegeben hat, ist zwar ziemliches Seemannsgarn. Sie handelt davon, wie Land- und Meeresungeheuer eine Stadt entzweireißen und damit auch die beiden Protagonisten trennen. Aber vermutlich nimmt gerade das Kindlich-Naive daran, diese Roald-Dahl-Putzigkeit (wie in „Sophiechen und der Riese“) für sie ein. Giganten, die durch die Großstadt stapfen, das ist eigentlich ein Motiv aus dem Horrorfilmfundus.

Aber wer die kleine Riesin durch die Friedrichstraße Roller fahren und ein Eis schlecken sieht, der fürchtet sich nicht. Man erinnert sich nur an den Slogan, mit dem Roland Emmerich sein Katastrophenwerk „Godzilla“ bewerben ließ, „Size Does Matter“. Es kommt eben doch auf Größe an. Eines der schönsten Bilder dieser Tage: Wie die kleine Riesin in einem kolossalen Liegestuhl vor dem Lustgarten schläft. Ihr pneumatischer Brustkorb hebt sich sanft, und ein zufriedenes Schnarchen erklingt vom Band.

In allerlei literarischen Erzeugnissen stehen die Riesen für die Macht, die Unterdrückung, mithin für die Politik. Das Gegenteil hat Royal de Luxe im Sinn. Auch wenn es eine beeindruckende Szene ist, wie der große Riese, dem Humboldt-Hafen entstiegen, aufs Kanzleramt zuläuft, als stünde die Regierungsübernahme kurz bevor, obschon er dann erstmal auf neutrales Territorium abbiegt, neben der schweizerischen Botschaft, um sich von der Feuerwehr den Durst löschen zu lassen.

Ein kitschig-ergreifendes Symbol, eine Utopie beinahe

Aber bedienen sich die beiden nicht der Gesten der Politik? Die kleine Riesin etwa sucht die Nähe von Kindern, die sie am Gendarmenmarkt auf ihren gewaltigen Armen schaukelt, ein tolles Fotomotiv. Überhaupt geben sich die Riesen volksnah und blinzeln bereitwillig in jede der unzähligen Digitalkameras, die unentwegt auf sie gerichtet sind (nur einmal, am Roten Rathaus, wenden sich die Kameras ab, um Klaus Wowereit zu fotografieren, wie er die Riesin fotografiert). Und was ist das Wiedersehen am Brandenburger Tor anderes als eine wirkungssichere Inszenierung für die Medien, bei der große Oper und Soap-Opera zusammenfallen, ein Anti-Götterdämmerungs-Wagner im pathetischen Hoffnungs-Sound? Aber nein, Unsinn, ein Politiker würde niemals, wie es die kleine Riesin tut, mitten auf den Pariser Platz pinkeln, zumindest nicht tagsüber, wenn das Fernsehen dabei ist.

Was am Ende bleibt, ist das Entzücken über den Zauber, den diese Marionetten tatsächlich entfalten, wenn das Leben in sie fährt, wenn die „Liliputaner“, wie die menschlichen Helfer getreu „Gullivers Reisen“ genannt werden, sie mit Seilzügen erwecken. Schon Kleist schrieb in seinem Aufsatz „Über das Marionettentheater“ davon, dass „ein Tänzer, der sich ausbilden wolle, mancherlei von ihnen lernen könne“, von diesen Puppen und ihrer Pantomimik.

Welche Eleganz da gemeint ist, davon erhält man hier, ganz pur betrachtet, einen überdimensionalen Begriff. Man wird sich an den entrückten Lufttanz der kleinen Riesin erinnern und an den Abschied der beiden: wie sie vereint auf ihrem Boot davonfahren. Das ist dann doch wieder ein schönes, kitschig-ergreifendes Symbol, eine Utopie beinahe. Berlin, ein Meer des Friedens.

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