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Kultur: Die Rückkehr der Gegenwart

Besonders erregt hat das Ereignis weder Berlin noch Bonn, und auch die Republik nahm es mit Gleichmut auf.War da überhaupt etwas, was der Aufmerksamkeit wert war?

Besonders erregt hat das Ereignis weder Berlin noch Bonn, und auch die Republik nahm es mit Gleichmut auf.War da überhaupt etwas, was der Aufmerksamkeit wert war? Zu sehen war an diesem grauen Novembermorgen im letzten Jahr eher ein kleiner Auflauf als ein großer Auftritt - der Kanzler auf dem Weg zum Staatsratsgebäude, ein paar Demonstranten, die Plakate für die Bewahrung des Palastes der Republik hochhielten, dazu die Berliner Finanzsenatorin, als sei sie zufällig vorbeigekommen.Dabei begann doch mit dieser ersten Sitzung des Bundeskabinetts in Berlin das, was das eigentliche Ziel aller der Veranstaltungen ist, die Berlin und auch einen Teil der Bundesrepublik seit dem Umzugsbeschluß vor acht Jahren umtreiben - Ziel auch der Gremienbeschlüsse und Planungen, der Baugruben und Kran-Aufmärsche: Die In-Dienstnahme der Stadt durch die Regierung.Die Politik kehrt nach Berlin zurück.

Aber war sie je weg? Es ist richtig, daß die Politik im vergangenen Halbjahrhundert nirgendwo so gegenwärtig war wie in Berlin.Aber immer war Berlin Objekt, Paukboden der Großmächte, Geisel des Ost-WestKonfliktes, Kostgänger der beiden deutschen Staaten.Subjekt der Politik war Berlin nur selten und mittelbar.Es setzte sich gegen den kommunistischen Überwältigungsversuch zur Wehr, es war der zweite Pfeiler der Luftbrücke, es hielt durch, es hielt aus - aber selbständige Politik fand nur im Rahmen des Stadtstaates statt, zwischen Rathaus und Parteiquartier, ein großes, unentrinnbares Heimspiel, auch wenn es an der Abbruch-Kante der Weltpolitik stattfand.

Gewiß, hier wurden auch Bundespräsidenten gewählt, hier tagte - selten - der Bundestag, hier lieferten alle Politiker ihre Bekenntnisse ab, und in den sechziger Jahren gab Berlin der Bundesrepublik auch Politiker, die kräftig an deren Schicksal mitwirkten.Doch seitdem mit dem Vier-Mächte-Abkommen die Existenz der Stadt gesichert war, geriet sie zunehmend an den Rand der bundesrepublikanischen Politik.Ein paar Ausschußsitzungen im gespenstisch leeren Reichstag, gelegentlich ein Bundesparteitag, aber auch der eher als Exkursion in die Mauer-Stadt unternommen, halb aus Solidarität, halb zum Nervenkitzel - der Rest blieb Politik auf kleiner, lokaler Flamme.Erst der Mauerfall schob Berlin wieder ins Gravitationsfeld der deutschen Politik.Doch auch das endete, als die Einheit vollzogen wurde: seitdem fand die Politik wieder in Bonn statt, Berlin war Hauptstadt im Vorbereitungs- und Wartestand.

Nun also kehrt die Politik zurück, die Politik dieser Republik, "richtige" Politik.Sie kehrt dahin zurück, wo sie in Deutschland schon einmal ein rundes Halbjahrhundert lang ihren Ort hatte.Aber in Wahrheit ist diese Übersiedlung der Politik an ihren alten Schauplatz, ist die Wiedereröffnung Berlins als politische Hauptarena der Bundesrepublik eine Premiere.Um so mehr ist Anlaß zu der Frage: Was macht die Politik aus Berlin? Und, fast noch wichtiger: Was macht Berlin aus der Politik?

Natürlich wird der Umzug der Politik nach Berlin für die Stadt Epoche machen.Man kann sich den Wandel gar nicht groß genug vorstellen, der die Folge davon sein wird, daß künftig dort, wo einst Ost-Berlin und die Mauerzone lagen - und nun, seit bald einem Jahrzehnt, eine Mitte, die noch längst nicht als Mitte, nämlich vermittelnd, wirkt -, ein paar tausend Menschen arbeiten werden.Sie werden beleben, was jetzt noch eine Mischung von historischer Rekonstruktion und Retorten-Stadt ist, dieses große Karree zwischen Schloßplatz und Reichstag, in dem Aufbruch und Melancholie, neoklassizistische Glätte und verwundete Vergangenheit noch immer im Streit liegen; sie werden dieses Areal zu einem Zentrum und einer Klammer in der Stadt machen, allein durch ihre Anwesenheit - ob sie nun zu Terminen eilen, zum Essen gehen oder nur ihre Büros bevölkern.Die große Zentrifuge, die der politische Betrieb darstellt, wird den Rhythmus der Stadt verändern, auch wenn ihre Wirkung in großen Teilen der Stadt nicht unmittelbar spürbar sein wird und ihre Umwälzkraft von den Gezeiten des politischen Geschäfts abhängt.

Die Wiederkehr der Politik wird aber auch Folgen für das Bild der Stadt haben.Über vier Jahrzehnte war Berlin zu einem Außenposten geworden, für die Politik wie für das Selbstverständnis der Republik; der verbissene Streit um den Hauptstadt-Beschluß und sein knapper, nur dank der Stimmen von ein paar Liberalen und der PDS für Berlin entschiedener Ausgang hat 1991 das Ausmaß dieser Verwerfung dramatisch sichtbar gemacht.Nun kommt Berlin wieder auf die politische Landkarte.Das ist gut für die Deutschen, vor allem die Westdeutschen, weil es ihren Blick auf den östlichen Teil des vereinten Deutschlands hin weitet.Es ist aber auch gut für Berlin, das eine Aufgabe erhält, an der es sich neu finden kann.

Das aber ist notwendig, denn es ist gar nicht zu bestreiten, daß die Stadt in den Jahrzehnten der Teilung an Substanz verloren hat.Selbst die Jahre seit dem Mauerfall, die eine Zeit des Anfangs, ja, eines atemberaubenden Aufbruchs waren, haben Berlin nicht nur gestärkt, sondern auch erschöpft.In dem Kampf zwischen den Zukunftsbildern, die die Vereinigung der Stadt aufgesteckt hat, und einer störrischen Wirklichkeit hat sie Kraft und Perspektiven-Bewußtsein gelassen.

Eingefordert wird damit aber auch eine Leistung Berlins und der Berliner.Der Umzug ist keine Bringschuld der Bundesrepublik.Die Bundesrepublik mußte ihre Hauptstadt nicht nach Berlin verfrachten - etwa wegen der reichshauptstädtischen Vergangenheit der Stadt oder der heiligen Berlin-Eide, die alle Politiker einmal geschworen haben.Nicht einmal ihre Durchhalte-Leistung, die die deutsche Frage so offen gehalten hat, daß sie die Antwort der Vereinigung erhalten konnte, wird man so verrechnen können.Es ist ein Geschenk der Geschichte - aber eins von der Art, das man nicht umsonst bekommt.Und damit sind nicht nur die Verkehrsverzögerungen gemeint, die künftig einmal die Wagenkolonne der Staatsbesuche erzeugen werden, oder die parlamentarische Bannmeile, über die in Berlin schon im voraus gestöhnt wird.

Die Stadt wird in ganz anderer Weise über ihren Schatten springen müssen.Sie wird sich nicht mehr selbst der Mittelpunkt sein können, um den sich alles dreht, sondern begreifen müssen, daß sie nun die Mitte für die ganze Republik ist.Sie wird sich überhaupt zu der Erkenntnis durchringen müssen, daß der Regierungs-Umzug keineswegs eine Veranstaltung zum Ruhm und zur Rettung Berlins ist, sondern zu Nutz und Frommen der Bundesrepublik, die eine Hauptstadt braucht.Die Ankunft der bundesrepublikanischen Politik verlangt Berlin mithin viele kleine Abschiede ab.

Doch hat Berlin Anlaß, von sich klein zu denken? Das Problem dieses Umzugs, eines der Probleme, jenes, das seinen absehbaren Vollzug mit einem Flammenkranz von Befürchtungen umgibt und unter dem Begriff der "Berliner Republik" traktiert wird, ist der Umstand, daß von der Stadt eher zu groß gedacht wird.Man weiß nicht, worüber man sich mehr wundern soll - über den Glauben, daß die Berührung mit dem geschichtsträchtigen Boden ausreichen soll, die alten unheiligen Kräfte wieder wachsen zu lassen, oder über die Anhänglichkeit an "Bonn", das doch, solange es den Schauplatz der deutschen Politik bildete, eher ein Gegenstand hämischer Glossen war.Dabei gibt es nirgendwo ein Indiz dafür, daß die Bundesrepublik sich von den Grundlagen losreißen könnte, die in Bonn gelegt wurden.Dagegen spricht etliches dafür, daß die größere Gefahr darin besteht, die Republik könne so stark an ihre Bonner Tugenden und Untugenden gebunden bleiben, daß der Umzug nur dazu führt, daß künftig "Bonn" in Berlin stattfindet.

Dann fehlte nicht viel an der Einsicht, daß man sich die ganze Mühe hätte sparen können.Denn die deutsche Politik sollte sich durch den Umzug ja auch ändern.Die Überzeugung, daß sie einen anderen, großzügigeren, weltläufigeren Zuschnitt hätte, wenn sie in Berlin und nicht in Bonn gemacht würde, war geradezu die Kehrseite der immerwährenden Klage darüber, daß Bonn so war, wie es war: zu klein, zu eng, zu zufällig.Sie begleitete als vage Hoffnung oder nur als Gedankenspiel die Bekümmerungsspur, die sich fast von der Stunde Null an bis nahe an die Gegenwart heran durch das Verhältnis der Deutschen zu Bonn zieht, und es gehört zu den Merkwürdigkeiten, mit denen die Wiederherstellung der Einheit und die Rückkehr in die alte Hauptstadt gespickt sind, daß diese Hoffnung nun, da sie eingelöst werden kann, so wenig zählt.

Bonn, die Stadt von Regierung, Parlament, Administration, der Inbegriff für Politik in der Bundesrepublik für bald ein halbes Jahrhundert: das war eine Stadt, die fast ganz aus Politik, genauer: aus den nervösen Anspannungen und Abspannungen des politischen Betriebs gemacht war.Das war der Boden, auf dem die Bilder und Formeln erwuchsen, mit denen die Beobachter der Bonner Wirklichkeit hinterherjagten - von dem "Treibhaus", mit dem Wolfgang Koeppen Bonn in den fünfziger Jahren beschrieb, bis zu der "Raumstation Bonn", die zwei Fernsehreporter Ende der siebziger Jahre dort fanden.Die neue Hauptstadt dagegen wird ihre Gestalt nicht allein aus Politik gewinnen; diese wird vielmehr das Feld mit Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft teilen.

Nicht zuletzt wird die Hauptstadt in Berlin eine andere historische Tiefe haben als Bonn, das Adenauer nicht zufällig, sondern mit Absicht als Regierungsstadt wählte, um die Bundesrepublik jenseits der historischen Bruchlinien der deutschen Geschichte zu plazieren.Das neue Regierungsviertel dagegen befindet sich ziemlich genau in jenem Planquadrat, auf dem in den vergangenen 150 Jahren fast alles stattfand, was der deutschen Geschichte die Richtung gibt - von der März-Revolution 1848 bis zur Ausrufung des Kriegszustandes 1914, von der gleich doppelten Ausrufung der Republik am 09.November 1918 bis zum Fackelzug der Nazis am 30.Januar 1933, vom Mauerbau bis zum Mauerfall und der Wiedervereinigungs-Nacht vor dem Reichstag.Für die deutsche Politik, die sich für noch unabsehbare Zeit daran messen lassen muß, ob sie weiß, woher sie kommt, ist es keine Beiläufigkeit, sich an einem solchen Ort einzurichten.Das ist auch eine Lesart der historischen Bedeutung dieser Rückkehr nach Berlin, und sie hat den Vorteil, bei weitem plausibler zu sein als jene, die immer nur die Infektion mit dem alten Größenwahn an die Wand malt.

Der Umzug der Politik, das neue Berlin als Projekt und Projektion auf das Morgen und Übermorgen - werden sie also einen neuen Stil der Politik hervorbringen? Der Wechsel ist einschneidend genug, der Resonanzboden, den die neue Hauptstadt der Politik bietet, so verschieden von dem bisherigen, daß Hoffnungen jedenfalls erlaubt sind.Es könnte in Berlin, vielleicht, die gesellschaftliche Kultur entstehen, die alle in der alten Bundesrepublik immer entbehrt haben - mit einem aufgeschlossenen Debatten-Klima, mit der Berührung der Milieus, die sonst nirgendwo zusammenkommen, mit dem Dialog der Regionen, dem die Hauptstadt ein Forum bietet.Wann, wenn nicht jetzt, wo die Jahrgänge, die die Republik in den Hafen der neuen Hauptstadt gesteuert haben, in den Hintergrund treten und neue Generationen ihre Ansprüche ankündigen? Wo, wenn nicht hier, in Berlin, beim Anfang einer neuen Phase der Republik?

Gekürzte Fassung eines Aufsatzes aus der soeben erschienenen zweiten Ausgabe des Journals "99/01 - Der Jahrhundert-Schritt", das von der Berliner Festspiele GmbH herausgegeben wird.

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