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Kultur: Die schönste Begleiterscheinung der Welt

Wo bitte geht’s zum Publikum? Der kulturpolitische Bundeskongress in Berlin erforscht die Kunst im Zeitalter der Beliebigkeit

„Ich schärfe meinen Mitarbeiterinnen täglich ein: Hier ist Prostitution angesagt!“ Wenn es um ihr Weimarer Kunstfest geht, schreckt Nike Wagner vor nichts zurück. Hemmungslos instrumentalisiert sie den Namen ihres berühmten Großvaters Richard und nutzt jede Gelegenheit, Publikum für ihr anspruchsvolles Weimarer „Pèlerinages“-Programm zu gewinnen. Und das funktioniert so: Unbemerkt betritt sie die Berliner Friedrich-Ebert-Stiftung, entdeckt, dass die Broschüren für ihr spätsommerliches Festival auf einem Tisch im hinteren Saalbereich platziert sind, schnappt sich zwei Stapel und positioniert sie am Eingang.

„publikum.macht.theater“ hat die Kulturpolitische Gesellschaft ihren dritten Bundeskongress überschrieben: Um Angebots- und Nachfrageorientierung soll es gehen, und um die Frage, wie sich die Massen in Museen, Theater- und Konzerthäuser locken lassen. Eine Viertelstunde nach ihrer kleinen Werbe-Guerillaaktion wird Nike Wagner auf dem Podium die – selbstverständlich nur gedankliche – Prostitution als Marketing-Instrument fordern. Claus Peymann, Chef des Berliner Ensembles, wird ihr vehement widersprechen und zu einem seiner höchst unterhaltsamen Monologe ansetzen: Seine Kunst „,mit äußerster Vehemenz und Glaubwürdigkeit“ zu vertreten, reiche völlig aus, um die Säle zu füllen. Moderator Hansjürgen Rosenbauer mag sich noch so mühen, an das Debattenthema „Kunst und Kultur im Wettbewerb um Aufmerksamkeit“ zu erinnern – Peymann gewinnt jeden Kampf ums Interesse im Alleingang. Glücklich der Intendant, der sich selbst als Promotionmanager verpflichten kann.

Das Gespräch mit Peymann, Nike Wagner und dem „Telepolis“-Herausgeber Florian Rötzer ist als Schmankerl am Ende des ersten Kongresstages gedacht. Zuvor war hart gearbeitet worden: 500 Teilnehmer versenkten sich in die feinsten Verästelungen moderner Sozialstrukturforschung, stritten über den Strukturwandel der kulturellen Öffentlichkeit und ließen sich den Unterschied zwischen Kommerz-Marketing und der Öffentlichkeitsarbeit in Non-Profit-Unternehmen erklären.

„Unendlich fern erscheint uns heute der kulturpolitische Leitspruch der Siebzigerjahre, ,Kultur für alle’“, konstatierte Staatsministerin Christina Weiss in ihrer mitreißenden Eröffnungsrede und forderte die Intendanten auf, ihre Häuser als „Bekanntschafts-Anbahnungsinstitute“ zu verstehen. Da immer weniger Menschen den klassischen Bildungskanon kennen, gehe es darum, die Begegnung von Publikum und Theater so zu moderieren, „dass es für einen von beiden peinlich wird“. Für die Zukunft wünscht sich Weiss eine „Kultur durch alle“, eine von Enthusiasten getragene Kunstszene. „Wir müssen die Erkenntnis wecken, dass die Kultureinrichtungen allen gehören“, fordert sie. Dann lassen sich die Leute ihre Theater und Museen auch nicht so schnell wegnehmen.“

Das Flaneurverhalten moderner Kulturnutzer hat Susanne Keuchel vom Zentrum für Kulturforschung untersucht: Intensivnutzer, die auf nur ein Genre fixiert sind, gibt es kaum noch. Für die Veranstalter wird die Sache dadurch schwieriger: Wer als Kunde enttäuscht wird, wechselt einfach in eine andere Kunstsparte. Fünf Prozent der 100 Millionen Museums- und 30 Millionen Theaterbesucher pro Jahr, hat Keuchel ermittelt, interessieren sich gar nicht für die gezeigte Kunst – sie sind bloß „Begleiter“.

Armin Klein zitierte einen schönen Satz von Adolf Muschg: „Nichts, was das Kunstwerk zu bieten hat, war vorher auf dem Markt; also konnte es keine Nachfrage danach geben.“ Der Schlussfolgerung des Präsidenten der Berliner Akademie der Künste mag sich der Kulturmanagement-Professor aus Ludwigsburg allerdings nicht anschließen: „Wer Kunst kann“, so Muschg, „müsste per se ein Gegenstand des Interesses sein. Er braucht sich nicht weiter interessant zu machen oder seine Leistung als Dienstleistung zu empfehlen.“ Das, kommentierte Armin Klein, gelte vielleicht für die fünf Prozent bildungsbürgerliche Vielnutzer.

Die Hälfte der Bevölkerung erreichen die Kulturveranstalter allerdings auch mit dem besten Marketing nicht. Die andere Hälfte aber will listig umworben sein. Nike Wagner kann davon mehr als nur eine Arie singen.

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