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Kultur: Die Schuldigen

Andres Veiel dokumentiert in „Der Kick“ einen Mord

Die Vorlage zum Mord stammt aus dem Kino: der Bordsteinkantenbiss. So wie sie es in Tony Kayes „American History X“ gesehen hatten, ließen die Brüder Marco und Marcel im brandenburgischen Potzlow ihren Kumpel Marinus in die Kante einer Kuhtränke beißen und sprangen ihm dabei auf den Kopf. Er starb daran.

Über mehrere Stunden hatten sie den 16-jährigen Dorfnachbarn unter Alkoholeinfluss misshandelt. Nach dem brutalen Mord verscharrten sie die Leiche in der Nähe der Jauchegrube. Der Mord von Potzlow im Sommer 2002 hatte einen Aufschrei der Empörung zur Folge. Mit einfachen Erklärungsmustern war man schnell bei der Hand: die Eltern, die Arbeitslosigkeit, der Werteverlust in der ehemaligen DDR, der rechtsextreme Hintergrund eines der Täter – all das bediente die Vorurteile gegenüber dem „Wilden Osten“.

Andres Veiel war das zu wenig. Im Auftrag des Maxim Gorki Theaters ist der Regisseur zusammen mit der Dramaturgin Gesine Schmidt über 40 Mal nach Potzlow gefahren, hat mit Freunden, Nachbarn, Verwandten von Tätern und Opfern gesprochen, Vernehmungsprotokolle und Gerichtsakten studiert und aus dem Material ein Doku-Theaterstück für zwei Personen konzipiert, das nun als Filmversion ins Kino kommt. SusanneMarie Wrage und Markus Lerch spielen fast zwanzig Rollen. Sie leihen den Tätern, deren Eltern, Marinus’ Mutter, Pfarrer, Staatsanwalt und Zeugen des Verbrechens Stimme und Körper.

Das Konzept geht auf. Die Entpersonalisierung der oftmals erschütternden Aussagen schafft Distanz, sorgt dafür, dass man den Blick nicht abwendet und die Worte nicht am Filter der eigenen Vorurteile abprallen. Wie in seinen Dokumentarfilmen, von „Die Überlebenden“ über „Blackbox BRD“ bis zu „Die Spielwütigen“, beweist sich Veiel auch in „Der Kick“ als gründlicher Rechercheur. Tamara Milosevics Dokumentation „Zur falschen Zeit am falschen Ort“ zum gleichen Thema beschränkt sich auf diejenigen, die trotz negativer Medienerfahrung bereit waren, vor der Kamera auszusagen. Dagegen zeichnet Veiel, der bei seinen Recherchen bewusst keine Kamera dabeihaben wollte, ein umfassendes Bild des sozialen Mikrokosmos, aus dem heraus das Verbrechen entstanden ist. Er liefert keine Erklärungen, aber er spricht trotz allem Verständnis das Dorf, das zusah und schwieg, nicht von Schuld frei. Niemand wird geschont. Die Bewohner von Potzlow nicht, aber auch nicht das Publikum, dem der Weg der einfachen Distanzierungen versperrt bleibt.

fsk am Oranienplatz, Hackesche Höfe, Neue Kant Kinos

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