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Kultur: Die Sozialisierung des Privaten

Lange Jahre stand Leipzig unter der Knute.Jetzt wäre alles möglich.

Lange Jahre stand Leipzig unter der Knute.Jetzt wäre alles möglich.Aber diskutiert wurde wenig beim 40.Dokumentarfilmfest, dem bedeutendsten des Landes - trotz einiger bemerkenswerter Filme VON SILVIA HALLENSLEBEN Eine merkwürdige Gesprächsmüdigkeit hat uns, das Festival-Publikum erfaßt.Das Herrlichste und das Entsetzlichste kann man uns vorführen, Ärgerliches und Begeisterndes: Wir klatschen, mal mehr und mal weniger, protesthalber vielleicht auch mal gar nicht.Ein paar höfliche Nachfragen, allenfalls ein vorsichtiger Kommentar ("Ich wollte damit nicht den Film kritisieren"), und weiter zum nächsten Programmpunkt in Leipzig. Ken Loachs streikende Docker: ah ja.Der italienische Wettbewerbsbeitrag "Der Spiegel der Diana" von Yervant Gianikian und Angela Ricci Lucci, der mit der Bearbeitung historischen Filmmaterials "den Faschismus dekonstruieren" will, aber dabei reichlich verquast aussieht: Warum sich darüber erregen? "Und plötzlich sahen wir den Himmel...", ein uruguayisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt auf den Spuren von Kämpferinnen der jeweiligen Stadtguerilla: Anlaß für ein paar lauwarme Überlegungen zum Unterschied zwischen lateinamerikanischer und deutscher Fraulichkeit.Über Politik wurde kein Wort gesprochen.Über Ästhetik schon gar nicht.Bleibt nur die Dame, die sich, zweisprachig, beim Compañero Birri bedankt, daß er Kuba so gut und den Herrn Vargas Llosa so schlecht wegkommen läßt.Der argentinische Regisseur Fernando Birri nämlich läßt in "Che - Tod oder Utopie?", sehr plakativ geschnitten, die Utopie im Westen zu Fun und Karibik schrumpfen, während dort drüben, unter den Anden, der Mythos unbefragt bleibt. Ein typischer Leipzig-Film? Für uns, denen im Kino sonst die Gewalt im Stil von Horrorfilmen wie "Scream" entgegentritt, ist ein Ort, wo sich Filme mit real existierenden Konflikten beschäftigen, immer ein - verzeihen Sie! - erfrischend welthaltiger Ort.Denkanstöße.Aber keine Auseinandersetzung.Auch Filmerfahrung ist privatisiert.Und selbst wenn, wie dieses Jahr geschehen, ein paar hundert Menschen ein Spekulationsinteressen geopfertes ehemaliges Festivalkino, das "Casino", zur nächtlichen Filmvorführung symbolisch besetzen: Randglosse, die der Großteil des Publikums aus der Morgenpresse erfährt. Bei einem einzigen Film, Thomas Heises "Barluschke", schien Diskussionsbedarf zu bestehen - doch hier würgte der Regisseur das Gespräch kurzerhand ab, um es, fürs Publikum praktisch unhörbar, im Festivalcafé fortzusetzen."Barluschke" porträtiert einen Mann, der sich aus übersteigertem Individualitätsdrang heftig in die Wirren deutsch-deutsch-amerikanischer Geheim(dienst)politik verstrickt.Eine langatmig und langweilig inszenierte Männergeschichte, die das Menschenleben so detailreich präsentiert, wie wir es bei Diaabenden so fürchten, offensichtlich aber durch ihr Stasi-Thema so viel Aufsehen erregte, daß sie die Silberne Taube einheimste. Ist die deutsch-deutsche Befindlichkeit das einzige, was uns noch erhitzt? Die lebhaftesten Diskussionen gab es jedenfalls bei einem Symposium, das sich der vierzigjährigen Geschichte des Festivals widmete.Auch da Deutsch-Deutsches: Westaktenwühler gegen Ostmiterlebthabende.Die Finessen sozialistischer Realpolitik zwischen Auswahlkomitees, ZK-Vorgaben und Kunst.Naives Erstaunen: Saßen da wirklich Menschen in der Auswahlkommission? Interessante Details aus der Festivalgeschichte waren zu erfahren.Von einer Quotenregelung für Filme aus den sozialistischen Bruderländern zum Beispiel, die dafür sorgte, daß auch weniger als Mittelmäßiges zur Aufführung gelangte.Oder die Geschichte jener zwei Filme der Polisario-Befreiungsfront, die zuerst abgewiesen wurden - schließlich war Marokko ein wichtiger Rostofflieferant der DDR - nach einem Gespräch mit zuständigen ZK-Vertretern aufgrund höherer Einsicht in die reale Bedeutungslosigkeit der Künste dann doch noch teilnehmen durften. Dokumentarfilme sind auch deshalb wichtig, weil sie Vergangenheit bewahren.Die diesjährige Retrospektive war in Leipzig unter dem Titel "Dialog mit einem Mythos" den Preisträgern der Festivalgeschichte gewidmet.Neben großen, aufregenden Filmen von Chris Marker und Ivens, Karl Gass und Böttcher war hier viel Biederes zu sehen.Gegen Krieg und Faschismus: Mindestens dreimal habe ich Hitlers Worte vom zähen Leder und dem harten Kruppstahl gehört.Unzählige Male die Opfer gesehen all der Kriege, Korea, Vietnam, Hiroshima.Tausende Tote, Bataillone verletzter Kinder.Das stumpft ab. Daß sich anders umgehen läßt mit der Geschichte und ihren Schrecken, zeigt der Ungar Péter Forgács mit seinem "Freier Fall", der diskret bearbeiteten Homemovie-Familienchronik einer ungarisch-jüdischen Familie aus der Vorkriegs- bis Kriegszeit.Diskret wird hier Privates sozialisiert."Freier Fall" ist ohne Preis ausgegangen, doch auch die beiden Filme, die ex aequuo mit der Goldenen Taube ausgezeichnet wurden, nähern sich ihren Stoffen mit leisen Schritten.In "37 Geschichten vom Weggehen" versucht die US-Amerikanerin Shelley Silver, drei Generationen japanischer Frauen näherzukommen: mit erstaunlichen Ergebnissen."Nicht gesehen" von Miroslav Janek aus Tschechien porträtiert eine Schule für blinde Kinder. Ein sympathisch bescheidener Film.Einer, über den es wirklich nicht viel zu diskutieren gibt.Lange Jahre stand Leipzig unter der Knute.Jetzt wäre eigentlich alles möglich.Aber es findet nicht statt.Ist die Suche nach gesellschaftlichen Alternativen im Mahlstrom individueller Lebensentwürfe untergegangen? Fernando Birri baut auf der Suche nach der Utopie den Gegensatz der Welten neu auf.Das nützt wenig.Eher hilft Andreas Voigt auf die Sprünge.Der untersucht in "Große Weite Welt" die Befindlichkeit einiger Ostdeutscher im Jahre Acht nach der Vereinigung.Keine Langzeitbeobachtung, sondern ein Zeitenmosaik, filmisch bieder, aber mit dokumentarischem Adlerblick.Wie die Ex-Hausbesetzerin, die jetzt als Anwaltsgehilfin in Stuttgart schafft, vom "ARBEITEN" spricht, als sei es eine neue Religion.Wie alle Träume von Selbstbestimmtheit und Würde zusammenschrumpfen auf das Kleinste: das Recht auf ein bißchen Spaß am Leben.Ernüchternde Dokumente, die uns unser Spiegelbild zurückwerfen.Wollen wir vielleicht deshalb nicht mehr debattieren?

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